Drei Stunden Geschichte in fünf Folgen und zwei Sprachen: FINDING VAN GOGH ist der erste Podcast des Städel Museums – und das Ergebnis eines intensiven Jahres Arbeit. Wie wird aus einer Idee ein Podcast?
Gemälde sind da, um angesehen zu werden. In Ausstellungen zum Beispiel. Wenn aber im Herbst 2019 MAKING VAN GOGH im Städel eröffnet, wird ein Gemälde nicht zu sehen sein: An der Wand hängt dann, neben 120 Kunstwerken, ein leerer Bilderrahmen. Dieser Rahmen gehörte einmal zu Vincent van Goghs Bildnis des Dr. Gachet. Es ist das letzte große Porträt des Künstlers, eins seiner wichtigsten, persönlichsten und vielleicht bewegendsten Gemälde. Heute ist es eine Legende. 1937 wurde es von den Nationalsozialisten aus der Sammlung des Städel entfernt. Seit 30 Jahren, seit einer rekordbrechenden Kunstauktion in New York, ist es ganz aus den Augen der Öffentlichkeit verschwunden.
Wie vermittelt ein Museum ein Kunstwerk, das unsichtbar ist? Man macht es hörbar. Das war die Ausgangsidee für unsere Podcast-Serie FINDING VAN GOGH, die sich in fünf Folgen nur um dieses eine Gemälde dreht.
Im Sommer 2018 fällt die Entscheidung: Das Bildnis des Dr. Gachet bekommt einen eigenen Podcast. Der Zeitplan ist straff, in gut einem Jahr, pünktlich vor der Van-Gogh-Ausstellung, soll er fertig sein. Podcasts sind in Deutschland keine Neuheit mehr, es gibt zahllose Gesprächs- und Interviewformate. Wir möchten im Gegensatz dazu aber eine narrative Serie entwickeln, die das Potenzial des Mediums Podcast, Geschichten zu erzählen, voll ausschöpft. Es soll kein historisches Feature werden, sondern eine lebendige und vielstimmige Produktion. Kunst-Geschichte als tiefgründiges gesellschaftliches Panorama, stimmungsvoll inszeniert und trotzdem authentisch und nahbar erzählt. Etwas Spannendes, etwas zum Binge-Hören! Ach, und ja, zweisprachig soll der Podcast auch sein. Kurz: eine ziemlich aufwendige Sache. Die Idee steht, aber wir brauchen Hilfe. Wer führt die Interviews und schreibt ein audio-taugliches Skript? Wer erzählt? Und wer produziert den Podcast?
Ich treffe Johannes Nichelmann an einem der unsäglich heißen Tage des Rekordsommers 2018. Zwei Stunden lang triefen wir gemeinsam über unseren Eiskaffees, tauschen uns über Podcasts aus und unsere Vorstellung davon, wie die noch namenlose Idee umgesetzt werden könnte. Ich denke an amerikanische Produktionen, wenn ich von narrativen Podcasts spreche. Johannes denkt auch an deutsche Radiofeatures, manches aus den 60er-Jahren. Die wenigsten, sagt er, die heute von amerikanischen Podcasts schwärmen, wissen von diesen Perlen. Diese lange Tradition hat Johannes geprägt. Nicht dass er zu den Dinosauriern unter den Radiomachern gehören würde: Mit knapp 30 Jahren hat er allerdings 12 Jahre Berufserfahrung als Reporter und Moderator. Einig sind wir uns am Ende jedenfalls darüber, dass wir the best of both worlds verbinden – und vor allem etwas Eigenes, Neues produzieren wollen.
Nach diesem Gespräch haben wir nicht nur einen Podcast-Host, sondern gleich zwei Autoren und zwei Produzenten: Neben Johannes Nichelmann ist noch Jakob Schmidt mit im Boot. Jakob ist Filmregisseur, ebenso jung und mehrfach ausgezeichnet. Auch am Städel Museum stellen wir ein Team zusammen. Wir haben hier in den vergangenen Jahren viel Erfahrung mit digitalen Vermittlungsangeboten gesammelt, mit verschiedenen Storytelling-Formaten, haben Digitorial®, einen Onlinekurs oder ein Game für Kinder gelauncht. Wichtig ist uns immer, dass wir diese inhaltlichen Angebote aus dem Haus heraus entwickeln, gemeinsam mit unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und innerhalb unserer Vermittlungs- und Kommunikationsabteilungen.
Anna Huber ist Teil der Abteilung Bildung & Vermittlung und nicht nur leidenschaftliche Kunsthistorikerin, sondern auch Podcast-Fan. Auch sie wurde mit amerikanischen Podcasts sozialisiert, wir beide lieben dieselben Produktionen. Anna wird in den nächsten Monaten tief in die Geschichte des Gemäldes eintauchen. Gemeinsam kümmern wir uns um die weitere Konzeption und Redaktion. Zwei Kolleginnen aus dem Marketing steigen ebenfalls mit ein, um den Vertrieb des Podcasts von Anfang an mitzudenken. Unser Team ist komplett. Unser Podcast wird im gemeinsamen Berliner Studio von Johannes und Jakob entstehen. Google Docs, WhatsApp und ein heißer Telefondraht halten die Frankfurt-Berlin-Connection zusammen. Dr. Gachet is watching us mit seinem skeptischen Blick. Jetzt müssen wir liefern.
Ein paar Wochen vergehen, in denen Anna und ich vor allem lesen und reden, Inhalte und Gedanken strukturieren. Wir merken, wie viele Facetten das Bildnis des Dr. Gachet hat. Es gehört zu diesen Gemälden, die Kunstgeschichte so reich und faszinierend machen, weil man in ihnen viel mehr erkennt als nur Farbe auf Leinwand. Es geht um Gesellschaft, persönliche Biografien, Geschichte, Politik, Ökonomie und Philosophie – ein Gemälde als Spiegel der letzten 130 Jahre.
Als die Herbstwolken die Temperaturen längst runtergekühlt haben, kommen Johannes und Jakob aus Berlin nach Frankfurt. Wir treffen uns zu einem ersten inhaltlichen Workshop, diskutieren einen Tag lang über unsere ersten Erkenntnisse und darüber, was Schwerpunkte der einzelnen Folgen sein könnten. Ab jetzt meißeln wir aus diesem kunsthistorischen Schwergewicht einen Podcast von insgesamt drei Stunden Dauer.
Johannes und Jakob arbeiten in den nächsten Wochen eine erste grobe Form heraus, die Outline. Sie beschreibt, was in welcher Folge passieren wird, wer zu Wort kommen und welche Botschaften jede Folge vermitteln soll. Mit dem fertigen Podcast hat sie später nichts mehr zu tun. FINDING VAN GOGH – wir haben mittlerweile einen Namen – erweist sich als ziemlich unbändiges und zeithungriges Projekt, das permanent wächst und sich wandelt, vor allem durch unsere Gesprächspartnerinnen und –partner.
Wir sprechen mit insgesamt fast 50 Menschen. 25 von ihnen werden Johannes und Jakob interviewen, 14 davon kommen am Ende im Podcast zu Wort. Doch die vielen Mails, Telefonate und persönlichen Besuche – viele haben das E-Mail-Alter längst überschritten – bringen uns dem Gemälde immer ein Stück näher. Jeder Kontakt führt zu neuen Kontakten, jedes Gespräch zu neuem Wissen, neuen Ideen oder Erinnerungen. An manche Protagonisten heften wir uns mehrere Monate, bevor sie zusagen. Ein anderer lädt zu einem spontanen Besuch am nächsten Tag in Basel ein. Wieder andere suchen wir vergeblich: Einen Zeitzeugen oder eine Zeitzeugin, die das Bildnis des Dr. Gachet noch bis 1937 im Städel gesehen hat, können wir selbst über einen offiziellen Aufruf nicht mehr ausfindig machen.
Auch über die Stilfrage, die Tonalität unseres Podcasts müssen wir uns verständigen und unsere Vorstellungen zusammenbringen. Welche Art von Podcast wollen wir wie erzählen? Wie vermitteln wir eine Dringlichkeit und erhalten die Spannung aufrecht? Wie schaffen wir eine Identifikation mit der Geschichte? Wie bleiben wir verständlich, ohne didaktisch zu werden? Wir widmen diesen Fragen wieder einen ganzen Workshop-Tag. Doch am Ende gibt es nichts Gutes, außer man tut es – also weiter an die Umsetzung.
Johannes und Jakob brechen zu den Interviewreisen auf. Die ersten Gespräche finden in Frankfurt statt, weiter geht es in New York, dann nach London, Paris, Auvers-sur-Oise, Köln, Berlin, Basel. Johannes läuft mit seinem Kopfhörer durch die Gegend, in der Hand ein Mikrofon, das aussieht wie ein Miniatur-Zeppelin – eine Art Aufnahmestudio-to-go. Der Hall in einem leeren Museum, der Lärm auf den Straßen New Yorks, aber auch jede Nuance in der Stimme – diesem Gerät entgeht nichts.
Auch in Frankfurt wird weiter gearbeitet. Anna, unsere Provenienzforscherin Iris Schmeisser und der Kurator der Ausstellung, Alexander Eiling, forschen weiter zur Geschichte des Gemäldes, vor allem dazu, was in seiner Frankfurter Zeit, also von 1911 bis Ende der Dreißigerjahre damit passiert ist.
Akten werden neu ausgewertet, alte Dokumente gefunden und Erkenntnisse revidiert. Es sind viele, teils nerdige Detailfragen, aber sie haben geholfen, die DNA des Hauses weiter aufzuschlüsseln, zu der eben auch die Geschichte des Gachet gehört. Was am Ende im Podcast in sehr reduzierter Form erzählt wird, hat einen breiten wissenschaftlichen Unterbau.
In diesen Monaten greift alles Hand in Hand: Die Recherchen am Städel, die Interviews, die redaktionelle Arbeit an den Skripten. Wir ringen um Formulierungen und Streichungen. Kill your darlings. Leicht und rhythmisch soll der Podcast klingen, dabei ist diese Leichtigkeit das Schwerste im ganzen Prozess. Für uns am Museum ungewohnt: Eine Audioaufnahme ist kein geschriebener Text, der umformuliert werden kann. Gesagt ist gesagt.
Die Skripte, die freigegeben sind, werden gleich übersetzt. Dann sind die Sprecherinnen und Sprecher dran, zuerst die Deutschen, dann die englischsprachigen. Auch Johannes nimmt seinen Erzählerpart auf. Für die englische Version steht ihm der Brite Benjamin Yates zur Seite, der ihn im Zweifelsfall einen Satz auch zehnmal einsprechen lässt. Weitere intensive Wochen vergehen, in denen unser Podcast eingesprochen, abgestimmt, übersetzt und geschnitten und vor allem immer wieder nachjustiert wird. Zeit wird relativ.
In den letzten Zügen der Produktion verbringe ich eine Woche mit Johannes und Jakob in Berlin. Wir sitzen vor dem Schnittprogramm. Im Souterrain-Studio merke ich kaum, dass es draußen schon wieder so heiß ist, wie ein Jahr zuvor, als der Podcast nur eine Idee war. Aus dieser Idee sind fast 80 Stunden Gesprächsmaterial entstanden, aus denen wir das herausgeklopft und -gefeilt haben, was wir nun endlich den ersten Städel Podcast nennen können: FINDING VAN GOGH. Ich hoffe, dass die Besucherinnen und Besucher unserer Van-Gogh-Ausstellung nicht nur schauen, sondern auch zuhören – um mehr zu sehen als nur einen leeren Rahmen. Zur Kunst gehört schließlich auch immer die Geschichte.
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