Wie umstritten van Goghs Malerei einmal war, können wir uns heute kaum vorstellen – doch im Deutschland der Kaiserzeit bot sie sogar Zündstoff für nationalistische Debatten. Über die Schattenseiten einer „deutschen Liebe“.
Die „Geschichte einer deutschen Liebe“, von der die aktuelle Van-Gogh-Ausstellung erzählt, beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, als viele Künstlerinnen und Künstler, Sammlerinnen, Sammler und Kritiker die Kunst van Goghs für sich entdeckten und förderten. Van Goghs radikal moderne Kunst sorgte aber auch für Aufsehen und Empörung. Die ungewöhnlichen, kräftigen Farben und der neuartige Pinselstrich brachen mit den Sehgewohnheiten – gerade im konservativen wilhelminischen Kaiserreich. Doch der eigentliche Anstoß, den diese Malerei bei vielen erregte, ging über Geschmacksangelegenheiten hinaus: Auch Fragen der kulturellen Identität und Politik, ja sogar heute zweifelhafte Debatten über Rasse und Nation waren mit der Kunst des Niederländers verknüpft. In den Strudel dieser Polemik gerät auch das Städel Museum.
Als der Direktor des Städel, Georg Swarzenski, im Jahr 1911 das berühmte Bildnis des Dr. Gachet (1890) für sein Museum erwirbt, findet der Ankauf keinesfalls nur Zustimmung. Im Gegenteil, der noch junge Direktor traut sich was! Denn im selben Jahr ist bereits ein Streit um die Werke van Goghs in der deutschen Öffentlichkeit entbrannt: Der Ankauf des Gemäldes Mohnfeld durch die Bremer Kunsthalle ist Auslöser für den sogenannten Bremer Künstlerstreit. Die öffentliche Kritik an der Einkaufspolitik des Museums gipfelt in der Streitschrift Ein Protest deutscher Künstler. Darin verurteilt der Worpsweder Maler Carl Vinnen mit 122 gleichgesinnten Künstlerinnen, Künstlern und Kritikern die vermeintliche „große Invasion französischer Kunst“ im wilhelminischen Kaiserreich. Tatsächlich wird van Gogh – der lange in Frankreich gelebt hat und selbst stark von französischer Kunst geprägt war – von vielen als „französischer“ Künstler wahrgenommen.
Die Argumente der Protestierenden – die Verschwendung deutscher Steuergelder für „ausländische“ Kunst und die Vernachlässigung „heimischer“ Kunstschaffender – verraten den polemischen Ton der Auseinandersetzung. Doch Verfechter der modernen, internationalen Kunst reagieren mit einer Gegenpublikation: In Im Kampf um die Kunst verteidigen Künstler, Galeristen und Museumsdirektoren die internationale Ausrichtung deutscher Museumspolitik. Auch der Frankfurter Städel Direktor Swarzenski unterzeichnet die Schrift und ihre unmissverständliche Botschaft: Die Wertschätzung von Kunst darf nicht an nationalen und kulturellen Grenzen halt machen.
Die ideologischen Gräben aber bleiben tief: 1913 entflammt die hitzige Debatte um Kunst und Kulturpolitik erneut – diesmal in Stettin. Als van Goghs Gemälde Allee bei Arles (1888) in den Galerien des Städtischen Museums ausgestellt wird, erheben sich empörte Stimmen: „Ganz Stettin steht kopfschüttelnd vor diesen lächerlichen Pinseleien,“ verlautet es in den Zeitungen, von „perverser Kunst“ und den „Machwerken moderner Maler“ ist die Rede. Auch der schwelende Antisemitismus fließt in den Protest mit ein: Schuld an der vermeintlichen Tendenz, alles Neue blind zu fördern, sei der „starke jüdische Einfluss auf dem Kunstmarkt“. Bittere Wahrheit der Geschichte: Eine solche Rhetorik wird zwei Jahrzehnte später im nationalsozialistischen Deutschland eine radikal zerstörerische Kunstpolitik rechtfertigen.
Auch der Kaiser persönlich richtet sich gegen die Kunst der modernen Avantgarden, die sich von traditionellen Schönheitsidealen losgelöst hat. Van Goghs sichtbare Pinselstriche, die unkonventionellen Ansichten und seine eigenwillige Farbwahl – etwa die blau-violetten Pappelstämme in Blick auf Arles (1889) – solche gestalterischen Mittel sind Staatsoberhaupt Wilhelm II. zuwider. Kunst habe dem Naturvorbild genau zu folgen und diene in erster Linie der Erziehung des Volkes, verkündet der Regent. Als „Dreckskunst aus Paris“ und Kunst für den „Rinnstein“ beschimpft er die Werke der Moderne.
Aber nicht nur die Gegner der modernen Kunst greifen tief in die Kiste heute zweifelhafter Argumente. Auch unter den Förderern, Sammlern und Liebhabern van Goghs trifft man auf erstaunliche Parolen. Der Schriftsteller und Kunstkritiker Theodor Däubner erinnerte sich später an die erste Van-Gogh-Ausstellung in Deutschland – 1901 im berühmten Kunstsalon Paul Cassirers in Berlin – und „des Ereignis Tragweite“. Die große Besonderheit van Goghs: Dieser sei „ein nordischer Mensch“ gewesen, dessen malerisches Genie im Süden Frankreichs entbrannt sei.
Van Gogh als Vertreter einer „nordischen Rasse“? Diese Vorstellung begleitet den Erfolg des Künstlers in Deutschland in den folgenden Jahrzehnten. Zahlreiche Stimmen beschreiben den „Naturburschen“ van Gogh, den „gothischen“ „lutherschen“ und „barbarischen“ Charakter seiner Person und Kunst. Die weitverbreiteten „Rassenlehren“ und das nationalistische Gedankengut der Zeit machen auch vor der Kunst nicht halt. In van Gogh sieht man einen Vermittler von vermeintlich ursprünglichen Ausdrucksformen eines „nordisch-germanischen“ Kulturkreises.
Auch der Ankauf des Bildnis des Dr. Gachet durch Städel Direktor Georg Swarzenski löst 1911 triefende, heute befremdliche Lobeshymnen aus. Der Philosoph Carl Gebhardt ist begeistert vom neuen Zuwachs des Frankfurter Museums und vergleicht van Gogh überschwänglich mit Kant, Schopenhauer, Goethe, Kleist, Beethoven und Wagner. „Wenn es das Wesen germanischen Geistes ist, Visionen des inneren Sinnes zu gestalten“, kann man bei Gebhardt lesen, „so hat er [der Germane] in van Gogh den Maler hervorgebracht, der in der Malerei seine Wesensart zum Siege verhalf.“ Diese erstaunliche Rhetorik veranschaulicht vor allem Eins: Auch die aufgeschlossenen und zukunftsweisenden Förderer van Goghs von damals sind uns heute fremd geworden.
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