Navigation menu

Mission van Gogh

Um 1900 war der Berliner Salon von Paul Cassirer der Hotspot für moderne Kunst. Mit Durchhaltevermögen und legendären Ausstellungen gelang es ihm, van Gogh in Deutschland berühmt zu machen.

Elena Schroll — 9. Januar 2020

Als Paul Cassirer am 28. Dezember 1901 die Türen seines Salons zur ersten Van-Gogh-Ausstellung in Deutschland öffnete, entbrannten hitzige Debatten. Die einen feierten den Niederländer als einen „genialen, bäuerlich derben Revolutionär“, andere befanden, dass seine Werke wohl nur „für die gebildeten Besucher dieses Salons erträglich“ seien, sprachen von „gestrichelten Absonderlichkeiten“. Eine Journalistin resümierte vernichtend über van Gogh: „leider giebt er uns, wie so viele der stammelnden Modernen, keinerlei Beweise, daß er auch anders malen kann.“ Heute klingen diese Worte umso absurder, wenn man bedenkt: Cassirer hatte so ikonische Werke wie die Sonnenblumen, Erste Schritte, nach Millet oder Die Pappeln in Saint-Rémy erstmalig nach Deutschland gebracht.

Vincent van Gogh, Die Pappeln in Saint-Rémy, 1889, The Cleveland Museum of Art, Vermächtnis von Leonard C. Hanna, Jr.

Vincent van Gogh, Die Pappeln in Saint-Rémy, 1889, The Cleveland Museum of Art, Vermächtnis von Leonard C. Hanna, Jr.

Als Galerist war Cassirer Pionier. Er setzte sich für die Werke von Cézanne, Renoir, Manet und van Gogh ein, als diese noch wenig geschätzt wurden – schon gar nicht im konservativen Deutschen Kaiserreich. Cassirer stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Unternehmer- und Gelehrtenfamilie. 1898 gründete er mit 27 Jahren seine Galerie nahe dem Berliner Tiergarten. Eigentlich ein ungewöhnlicher Standtort, die Konkurrenz bevorzugte den Großstadttrubel an der Potsdamer Straße, wo Laufkundschaft sicher war. Doch Cassirer legte Wert auf ein exklusives Konzept: Die Salonräume am Rande eines noblen Villenviertels ließ er von dem belgischen Architekten Henry van de Velde einrichten. Um einzelne Kunstwerke für potenzielle Käufer stärker in den Fokus zu rücken, setzte er sie gut beleuchtet und auf Augenhöhe des Publikums in Szene.

Das Lesezimmer des Kunstsalon Paul Cassirer in Berlin, gestaltet von Henry van de Velde, 1898

Das Lesezimmer des Kunstsalon Paul Cassirer in Berlin, gestaltet von Henry van de Velde, 1898

Gleichzeitig entwickelte er zusammen mit seinem Vetter Bruno eine perfekte Publicity-Strategie: Waren die beiden in den Gründungsjahren noch als Partner im Geschäft tätig, teilten sie ab 1901 die Aufgabenbereiche, arbeiteten aber weiterhin eng zusammen. Bruno übernahm die Leitung des gemeinsamen Kunstverlags und Paul die Galerie. In seiner Zeitschrift Kunst und Künstler veröffentliche Bruno immer wieder Artikel zu den von Paul präsentierten Ausstellungen und schürte damit Interesse.

Paul Cassirer am Strand im niederländischen Noordwijk, 1925

Paul Cassirer am Strand im niederländischen Noordwijk, 1925

Von den kritischen Reaktionen auf seine erste Van-Gogh-Ausstellung ließ sich Paul Cassirer glücklicherweise nicht beirren, auch wenn sich das Geschäft mit dem Künstler für ihn finanziell zunächst nicht lohnte. In den folgenden Jahren engagierte er sich unermüdlich, van Gogh einem größeren Publikum bekannt zu machen – mit Erfolg. Der Galerist war ein umtriebiger Netzwerker und pflegte enge Beziehungen zu Johanna van Gogh-Bonger, der Schwägerin und Nachlassverwalterin des Künstlers. Mit ihrer Unterstützung konnte er vor dem Ersten Weltkrieg um die 15 Ausstellungen ausrichten sowie zahlreiche Werke an Sammler und Museen vermitteln.

Vincent van Gogh, Erste Schritte, nach Millet, 1890, The Metropolitan Museum of Art, Schenkung von George N. und Helen M. Richard

Vincent van Gogh, Erste Schritte, nach Millet, 1890, The Metropolitan Museum of Art, Schenkung von George N. und Helen M. Richard

Durch seine Umtriebigkeit wurden auch andere renommierte Salons auf van Gogh aufmerksam, darunter die Galerie Ernst Arnold und der Kunstsalon Emil Richter in Dresden sowie die Moderne Kunsthandlung Brakl & Thannhauser in München. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich van Gogh vom No-Name zu einem der begehrtesten und teuersten Maler auf dem Kunstmarkt. Die letzte umfangreiche Van-Gogh-Retrospektive in Cassirers Galerie von 1914 markiert einen Höhepunkt der frühen Van-Gogh-Rezeption. Nur wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnte er noch einmal 151 Werke des Künstlers versammeln. Gleichzeitig veröffentlichte er zusammen mit Johanna van Gogh-Bonger die erste Gesamtausgabe der Briefe von Vincent und Theo van Gogh. Die Publikation machte van Goghs Arbeitsweise und Biografie einem großen Publikum zugänglich – wurde  zum absoluten Bestseller und damit zu einem weiteren wichtigen Baustein für die Mythenbildung um den Künstler.

$extendedTitle

Elena Schroll ist die kuratorische Projektleiterin der Van-Gogh-Ausstellung.

MAKING VAN GOGH. Geschichte einer deutschen Liebe“ läuft bis 16. Februar 2020 im Städel. Zur Ausstellung gibt es ein vorbereitendes Digitorial® und eine Podcast-Serie.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Vincent van Gogh, Bildnis des Dr. Gachet, 1890, Öl auf Leinwand, Privatsammlung, Foto: Bridgeman Images
    Beschlagnahme des „Bildnis des Dr. Gachet“

    „Die vorwurfs-vollen blauen Augen“

    Van Goghs berühmtes „Bildnis des Dr. Gachet“ gehörte einst dem Städel – bis die Nationalsozialisten es 1937 beschlagnahmten und zur „entarteten Kunst“ erklärten. Das Gemälde wurde zum politischen Spielball.

  • Vincent van Gogh, Regen - Auvers, 1890, Öl auf Leinwand, Amgueddfa Cymru - National Museum Wales
    Vom Künstler zur Legende

    „Es war schauerlich zuzusehen, wie er malte“

    Van Gogh als tragischer Held zwischen Genie und Wahnsinn – diese Legende entstand schon zu Lebzeiten des Künstlers. Aber erst 20 Jahre später wurde seine Biografie zum Bestseller. Der Autor: Julius Meier-Graefe.

  • Anonym, Georg Swarzenski, undatiert
    Städel Direktor Georg Swarzenski

    Ein Leben für die Kunst

    Mit 30 Jahren wurde Georg Swarzenski Direktor des Städel Museums – und prägte es drei Jahrzehnte lang. Sein Lebenswerk: eine moderne Sammlung. Das NS-Regime beschlagnahmte große Teile davon und zerstörte seine Karriere.

  • Ernst Ludwig Kirchner, Fehmarn-Häuser, 1908,
Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Dauerleihgabe aus Privatbesitz
    Van Goghs Einfluss auf die Brücke

    Van Goghiana

    „Ihr solltet euch nicht Brücke, sondern van Goghiana nennen,“ spöttelte Emil Nolde einmal über die Künstlergruppe um Kirchner, Heckel und Schmidt-Rottluff. Was sahen die jungen Expressionisten in van Gogh?

  • Vincent van Gogh, Allee bei Arles (Rand einer Landstraße), 1888, Öl auf Leinwand, Pommersches Landesmuseum, Greifswald
    Nationalismusdebatten um Van Gogh

    Liebe mit Höhen und Tiefen

    Wie umstritten van Goghs Malerei einmal war, können wir uns heute kaum vorstellen – doch im Deutschland der Kaiserzeit bot sie sogar Zündstoff für nationalistische Debatten. Über die Schattenseiten einer „deutschen Liebe“.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Honoré Daumier

    Zur Ernsthaftigkeit der Komik

    Wie Karikaturen funktionieren und warum Daumier für sie ins Gefängnis kam.

  • Der Film zur Ausstellung

    Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2024

    Unser Ausblick auf 2024: Freut euch auf faszinierende Werke von Honoré Daumier und Käthe Kollwitz, lernt die Städel / Frauen kennen, entschlüsselt die Bildwelten von Muntean/Rosenblum, erlebt die Faszination italienischer Barockzeichnungen und reist zurück in Rembrandts Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

  • Städel Mixtape

    #34 Jan van Eyck – Lucca-Madonna, ca. 1437

    Ein ruhiger Moment mit Kerzenschein, ihr seid so vertieft, dass ihr alles um euch herum vergesst: Vor rund 600 Jahren ging es den Menschen ähnlich, wenn sie vor Jan van Eycks „Lucca-Madonna“ gebetet haben. In diesem STÄDEL MIXTAPE geht es um das Andachts-Bild eines raffinierten Geschichtenerzählers. 

  • Städel | Frauen

    Louise Schmidt: Bildhauerin!

    Teil 2 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Gastkommentar

    Kunst & Schwarze Löcher mit Astrophysikerin Silke Britzen

    Was sieht eine Astrophysikerin in den Werken der Städel Sammlung? In diesem Gastkommentar eröffnet Silke Britzen (Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn) ihre individuelle Sichtweise auf die Kunstwerke im Städel Museum.