Als Vincent van Gogh mit 37 Jahren starb, war er so gut wie unbekannt. Erst durch das strategische Wirken seiner Schwägerin sollten er und sein Werk Kultstatus erhalten. Wie schaffte sie das?
„Neben der Kindererziehung hinterließ er mir noch eine zweite Aufgabe: Vincents Werk – es zu zeigen, es so oft wie möglich bewundern zu lassen.“ Johanna van Gogh-Bonger notierte diesen Satz 1891 – frisch verwitwet, alleinerziehend, mit gerade einmal 28 Jahren. „Er“ ist Theo, der jüngere Bruder Vincent van Goghs, zeitlebens dessen engster Vertrauter und Kunsthändler. Eigentlich hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, den Nachlass seines Bruders zu verwalten und zu vermarkten, nachdem dieser sich selbst das Leben genommen hatte.
Doch Theo starb gerade einmal ein halbes Jahr nach Vincent an den Folgen der Syphilis. Seine Bemühungen, die heute legendären Bilder endlich einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, hätten hiermit ein Ende finden können. Doch seine Witwe nahm sich des Mammutprojekts an: Ein Großteil der über 800 Gemälde und etwa 1100 Zeichnungen, entstanden in gerade einmal zehn Jahren Schaffenszeit, fiel jetzt in ihren Besitz. Hinzu kamen hunderte Briefe, die sich die beiden Brüder jahrelang geschrieben hatten. Sie sollten die Erfolgsgeschichte van Goghs maßgeblich mitschreiben.
Johanna, von allen Jo genannt, wurde 1862 in Amsterdam geboren und machte zunächst eine Ausbildung zur Englischlehrerin. Theo lernte sie in Paris durch ihren Bruder Andries kennen, der in der französischen Metropole lebte und leidenschaftlicher Sammler für moderne Malerei war. Im Juli 1887 beschrieb Jo in ihrem Tagebuch, wie sie Theos Avancen zunächst zurückwies: „Freitag war ein Tag voller Emotionen. Um zwei Uhr nachmittags klingelte es an der Tür: es war Van Gogh aus Paris. Ich habe mich über sein Kommen gefreut und redete mit ihm über Kunst und Literatur. Ich habe ihn sehr freundschaftlich empfangen und dann machte er mir plötzlich eine Erklärung. […] nach höchstens drei Tagen in meiner Gesellschaft möchte er sein ganzes Leben mit mir verbringen, er möchte sein ganzes Glück in meine Hände legen. Wie kann das nur sein? Und es tut mir sehr leid, dass ich ihm Schmerzen bereiten muss.“ Doch Theo ließ nicht locker, die beiden pflegten weiterhin engen Briefkontakt. Zwei Jahre später heirateten sie und im folgenden Jahr kam der gemeinsame Sohn Vincent Willem zur Welt. In einem Brief an seinen Bruder verkündete Theo die frohe Botschaft: „Wie wir dir schon sagten, nennen wir ihn nach dir, und ich wünsche mir, dass er ebenso entschlossen und mutig werden möge, wie du es bist.“ Zur Geburt seines Namensvetters schenkte Vincent das Gemälde Mandelblüten.
Nach dem Tod beider Brüder zog Jo mit dem Säugling und dem riesigen Konvolut an Kunstwerken von Paris nach Bussum, einem Städtchen in der Nähe ihrer Heimat Amsterdam. Um ihr Einkommen und den Unterhalt zu sichern, nahm sie Übersetzungsaufträge an und richtete eine Pension ein, deren Räume sie mit Gemälden ihres Schwagers dekorierte. Auch wenn Jo selbst keine Erfahrung im Kunstmarkt hatte, war sie sicherlich durch ihren Bruder und ihren Mann mit dem Geschäft vertraut. Statt das Gesamtwerk Vincents auf einen Schlag zu veräußern, wie ihr von Freunden und Vertrauten oft geraten wurde, verkaufte sie nur sehr zurückhaltend. Ihr Ziel war es zunächst, die öffentliche Präsenz der Arbeiten zu vergrößern, sie auszustellen – und zwar europaweit. Dafür baute sie sich ein internationales Netzwerk auf, suchte die Unterstützung von Freunden und trat mit Sammlern und Händlern, anfangs vor allem in den Niederlanden, Frankreich und Belgien, in Verbindung.
Vincents Werke wurden immer bekannter, doch der durchschlägige finanzielle Erfolg blieb erst einmal aus. Johannas Initiativen fielen dann kurz nach der Jahrhundertwende in Deutschland auf besonders fruchtbaren Boden: Ab 1901 führte sie eine enge Geschäftsbeziehung mit dem Berliner Galeristen Paul Cassirer, der mit ihrer Unterstützung in den folgenden Jahren deutschlandweit um die 15 Ausstellungen organisierte. So wurden auch andere renommierte Salons auf den Niederländer aufmerksam und das Geschäft nahm an Fahrt auf. Ein wichtiger Meilenstein in der Erfolgsgeschichte des Künstlers stellte die 1905 von Jo organisierte Van-Gogh-Retrospektive im Amsterdamer Stedelijk Museum dar: Sie umfasste 474 Exponate – eine Anzahl, von der heute jeder Kurator nur noch träumen kann.
Johannas erfolgreiche Van-Gogh-Vermarktung fußte noch auf einem zweiten Standbein, dem Briefwechsel zwischen Vincent und Theo. Gezielt ließ sie immer wieder Fragmente daraus veröffentlichen, 1906 erstmals in Deutschland. Die gesammelte Ausgabe der Briefe erschien schließlich 1914 auf Deutsch und Niederländisch. Sie beflügelte den Van-Gogh-Hype. Viele moderne Künstler lasen sie als Anleitung für das eigene Leben und Arbeiten. Schließlich rückten die Briefe die tragische Biografie van Goghs ins Blickfeld – und trugen so zur Entstehung jenes Mythos bei, der sich bis heute hält bei.
„Es ist ein Gefühl des unbeschreiblichen Triumphs – endlich ist es soweit – Vincent bekommt die Wertschätzung derer, die ihn früher ausgelacht und sich über ihn lustig gemacht haben,“ schrieb Jo bereits 1892 glücklich in ihr Tagebuch. Sie ahnte noch nicht, dass ihre Marketingstrategien van Gogh einmal zu einem der bekanntesten Künstler der Welt machen würden.
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