Vasarely hat die 60er-Jahre in Schwindel versetzt. Noch irritierender wird seine Kunst, wenn wir auf seine künstlerischen Anfänge zurückblicken – in eine Zeit der Utopien und Abgründe.
Das Werk Victor Vasarelys ist, wie sein Bild in der Kunstgeschichte, vielschichtig, wirkt nicht selten widersprüchlich. Es ist ein ausuferndes Werk, das in den 1950er-Jahren Massenproduktion und Architektur zum Teil seiner Kunst machte. Es bietet heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach Vasarelys Tod, immer noch oder wieder oder vielleicht mehr denn je Anlass zur Verwunderung, ist reich an Entdeckungen und Überraschungen. Es ist vor allem ein Werk, in dem sich die Abgründe Europas der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Swinging Sixties in New York und Paris verbinden.
Heute gilt Vasarely als Erfinder der Op-Art – eine Erfindung, die er allerdings spät, in den 1950er-Jahren machte, und die erst in den 1960er-Jahren zum gefeierten Stil wurde. Da war Vasarely schon in seinen Fünfzigern, und seine frühen, wegbereitenden Werke lagen Jahrzehnte zurück. Doch es lohnt, einen Blick genau auf diese Zeit zu werfen. Ab 1929 besuchte Vasarely das Budapester Műhely, eine Privatschule, die sich an den Ideen des Bauhauses orientierte. Von diesen Anfängen in den späten 1920er-Jahren in Ungarn über seinen Umzug nach Paris 1930 bis hin zu den darauffolgenden mehr als fünf Jahrzehnten begegnen wir einem Œuvre, das sich immer wieder neu erfand – und doch bis zuletzt aus seinen Wurzeln in Ungarn schöpfte.
Insbesondere dieses Werk der 1930er- und 1940er-Jahre war stilbildend für die folgenden Jahrzehnte. Die sehr unterschiedlichen Bilder verbindet ein Moment der optischen Irritation: Die Komposition beginnt schon in den frühen Zebra-Bilder im Stil der Op Art zu oszillieren. Dass es möglicherweise schon hier um mehr geht als rein optische Spielereien, wird an zwei anderen gegenständlichen Arbeiten Vasarelys deutlich, die ebenfalls in diesen frühen Jahren in Budapest entstanden sind: Bei Les Bagnards und Le Prisonnier scheint sich die Lust an der visuellen Irritation gelegt zu haben – obwohl auch hier die schwarzweißen Streifen bildbestimmend sind. Vor allem aber scheinen plötzlich, ganz andere, verstörende Themen auf: Selbst wenn man sich der vorschnellen Assoziation verweigert, die die gestreiften Baracken mit ihren ebenfalls gestreiften Strafgefangenen (frz., bagnards) zu einem Konzentrationslager macht, wird hier doch ein Grundton angeschlagen, der so gar nicht zum gängigen Vasarely-Bild passen will.
Das Programmbild der frühen 1950er-Jahre und somit seiner nachfolgenden zentralen Werkgruppen allerdings ist Vasarelys Hommage à Malevich (1952–1958). Nur auf den ersten Blick hat diese kunsthistorische Hommage an Malewitschs radikal reduziertes Schwarzes Quadrat mit der flirrenden Op-Art wenig gemein.
Eng verwandt ist es mit den frühesten Werken Vasarelys aus dem Jahr 1929, den Études Bauhaus A.B.C.D. Sowohl diese frühe als auch die späte Referenz auf das Bauhaus verbindet, dass sie die Statik des Quadrats weiterdenken: Die festgefügte Geometrie der Moderne ist schon 1929 und noch mehr zwei Jahrzehnte später erheblich ins Wanken geraten. Vielmehr: Vasarely hat sie in Bewegung versetzt.
Victor Vasarely taucht in der traditionellen Erzählung der europäischen und amerikanischen Avantgarden bis heute nur am Rande auf. Weder im Kontext der ersten Vorkriegsmoderne noch nach dem Krieg, nicht mit seiner frühen Bauhaus-Rezeption, seinen visionären Architekturutopien oder der Hinwendung zur industriellen Produktion. Auch seine parallel zur Minimal Art und den Werken der Neo-Avantgarden entstandenen Multiples bleiben außen vor. Dabei ist der 1906 Geborene wohl der einzige Künstler von Bedeutung für die Kunstgeschichte des vergangenen Jahrhunderts, der Teil beider Avantgarden war. Er war im weitesten Sinne Zeitgenosse Malewitschs und zugleich wichtiger Akteur der Nachkriegskunst in Europa und den USA. Er verband, wie sonst kein anderer, in Werk und Leben diese beiden ebenso antipodischen wie sich ergänzenden Phasen der jüngeren Kunstgeschichte.
Mit der rasanten Verbreitung seines Werks in Form von Auflagenwerken war Vasarely während einer begrenzten Zeit der Kunstgeschichte allgegenwärtig. Doch die Popularität, auf die er mit seiner Kunst zielte, machte diese zugleich auch im Überfluss verfügbar. Seine Kunst wurde im besten wie schlechtesten Sinne alltäglich, zum Teil der Popkultur – was in seinem Fall zum Verlust ihrer Einzigartigkeit führte.
So formulierte er in der Zeit der Neo-Avantgarden noch einmal und wohl zum letzten Mal das Narrativ der frühen Avantgarden: jene revolutionäre Utopie, die bei Vasarely allerdings das Scheitern schon in sich trug. Nicht zuletzt, weil das Scheitern dieser Utopie Vasarelys Lebensumstände in Ungarn bestimmt hatte und einer der Gründe für seinen Umzug nach Paris gewesen war. Seine Bilder und Objekte wurden in der Folge „Gegenwartskunst“ und „Gemeingut“ in einem – und existieren trotzdem oder deswegen noch heute, wenn auch anders, als vom Künstler prophezeit.
Vasarelys Bildwelten sind instabil und flüchtig, sie changieren und entziehen sich – und das ist ebenso logisch wie aufschlussreich: Vasarely holte den Bildraum der Renaissance, der zwischenzeitlich verschwunden war, wieder zurück ins Bild. Die Koordinaten der Zentralperspektive waren aber im 20. Jahrhundert nicht mehr verlässlich, die Parameter zur Vermessung der Welt pervertiert. Die Räume, die er hier entwirft, sind dynamisch einladend und problematisch zugleich. Erst wenn wir dieses Moment des Abseitigen und der Verunsicherung, die labyrinthischen Kompositionen und Farbwirbel, mitlesen, werden die dekorativenZèbres, die bunten Op-Art-Bilder wirklich verständlich. Wenn wir in Vasarelys raumgreifender Op-Art auch ihre malerischen wie inhaltlichen Abgründe erkennen, wird seine Kunst zum faszinierenden Zeugnis jenes Jahrhundertprojekts, das wir Moderne nennen.
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