Was gute Pressefotografie ausmacht haben wir einen gefragt, der es wissen muss: Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler sammelt seit über 30 Jahren Zeitschriften als Zeugnisse der Alltagskultur.
Ungewöhnliche Blickwinkel und Detailaufnahmen hielten unter der Idee Neu Sehen Einzug in Fotografien der Zeit der Weimarer Republik. Was bedeutete das für die Pressefotografie?
Patrick Rössler: Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Presseprodukte, in denen die Fotografien verwendet wurden, kommerzielle Angebote waren, die sich am Kiosk Woche für Woche verkaufen mussten. Damals haben schon zwischen zwei- und dreitausend Zeitschriften miteinander um die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser konkurriert. Entsprechend sollten neue und ungewöhnliche Ansichten Aufmerksamkeit erregen.
Das kann man an vielen Bildern der Ausstellung sehen: Sie behandeln bekannte Alltagsphänomene, die durch die gewählte Perspektive in ein neues Licht gerückt werden. Ein Beispiel ist der Seiltänzer von Martin Munkácsi. Aber Neues Sehen wurde nicht zum dominanten Merkmal der Pressefotografie – sonst hätten die Fotografien sich dann auch nicht mehr aus der Bildmasse abheben können.
Wie konnte eine Aufnahme wie die Zebras von Seidenstücker noch 1937 veröffentlicht werden, wenn man doch gemeinhin davon ausgeht, dass moderne Gestaltungsweisen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ein Ende fanden?
Das nationalsozialistische Zensur- und Unterdrückungssystem war speziell auf jede Art von politischer Meinungsäußerung und künstlerischem Ausdruck konzentriert. Immer dann, wenn das Ganze im Bereich des Angewandten lag, waren die Kontrollmechanismen nicht so stark. Alles was funktional war, sollte weiter in einem gewissen Rahmen verwendet werden. Die Aufnahme der Zebras wurde beispielsweise in der Zeitschrift Gebrauchsgraphik. Monatsschrift zur Förderung künstlerischer Reklame veröffentlicht. Wie der Untertitel schon verrät, waren dort die aktuellsten Erscheinungen versammelt, die in Fachkreisen für Gestaltung auch international Beachtung fanden. Entsprechend wurde die ästhetische Komposition von Fotografen, die offiziell ähnlich dem Berufsstand des Handwerkers zugeordnet waren, ebenfalls geschätzt und thematisiert. Nach der Gleichschaltung der Presse 1933 durch die Nationalsozialisten wurde das Magazin im Phönix-Illustrations Druck und Verlag GmbH Berlin zwar unter neuer Redaktion, aber mit ähnlichen Inhalten und Zielen weiter verlegt.
Sie besitzen selbst eine große Sammlung historischer Zeitschriften und sind damit auch Leihgeber der Ausstellung – was fasziniert Sie an historischen Magazinen, wie kamen Sie dazu?
1991 habe ich eine erste Ausstellung zu illustrierten Zeitschriften der 1950er-Jahre gemacht und dort ist mir bereits aufgefallen, dass die illustrierte Presse eine bestimmte Ästhetik verfolgt hat, die stilbildend und prägend war. Die Anfänge der visuellen Zeitschriftenkultur lagen damals noch nicht lange zurück, denn viele der Innovationen in Layout und Gestaltung fanden in den 20er Jahren ihren Ursprung und wurden über die Jahrzehnte weitergetragen. Diese Bildmedien hatten gerade in dieser Zeit einen unglaublichen Einfluss auf die Weltwahrnehmung der Menschen. Es war nicht üblich, in den Urlaub zu fliegen und die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, es gab auch kein Internet – illustrierte Magazine waren die Quelle, um Menschen eine bildliche Vorstellung von der Welt zu geben. Diesen Gedanken finde ich sehr faszinierend.
Nach welchen Kriterien sammeln Sie?
Mich interessiert das 20. Jahrhundert und dabei alle Zeitschriften von allgemein populärem Zuschnitt, die illustriert sind – Fachzeitschriften interessieren mich nur in großer Ausnahme: Modezeitschriften, die sich an eine breite Öffentlichkeit richten, wie die Vogue zum Beispiel, sind sehr wohl interessant. Es geht mir um das Populäre.
Wo spüren sie die teils doch sehr seltenen Hefte auf?
Entweder auf Auktionen oder über Vermittlung Dritter. Aufgrund meiner Beschäftigung mit dem Thema werde ich oft direkt angeschrieben. Was man sich vielleicht nett vorstellt, aber es eigentlich nicht gibt, sind Flohmarktfunde. Das war in den 1990er-Jahren vielleicht noch so, aber das ist immer weniger geworden. Die Magazine sind auf vergänglichem Material gedruckt, die Zustände werden immer schlechter, weshalb sie von diesen klassischen Sekundärmärkten verschwunden sind.
Was glauben Sie, welche Zeitschriften von heute werden Sammlerinnen und Sammler in hundert Jahren beschäftigen?
Seit den Nullerjahren erlebe ich eine gesteigerte Tendenz zu Print und neuen Zeitschriften, auch wenn man denken würde, alles findet nur noch digital statt. Sie haben keine hohe Auflage, sind aber an den Bahnhofskiosken erhältlich. Ein sehr schönes Beispiel ist, finde ich, brand eins – das wird sicherlich für gebrauchsgrafische Sammlungen ein Klassiker werden. Was oft übersehen wird: Die illustrierten Beilagen der großen Tageszeitungen, wie das SZ Magazin, die oft sehr liebevoll gestaltet sind.
Was können wir im Rückblick auf historische Zeitschriften über unseren Alltag heute lernen?
Wenn ich alte Zeitschriften durchsehe, erkenne ich oft Dinge wieder, die mir auch im heutigen Alltag begegnen – zum Beispiel Moden, die zyklisch zurückkommen. Auch bestimmte Ereignisse kehren in konstanter Regelmäßigkeit wieder. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Bilder gleichen. Die Fotografie von Erich Salomon 1928 auf der internationalen Tagung des Völkerbundrats in Lugano hält die Debatte der deutschen, britischen und französischen Außenminister Gustav Stresemann, Austen Chamberlain und Aristide Briand fest. Solche Schnappschüsse von Politikern gibt es heute bei jeder Gelegenheit zuhauf. Und letztlich folgt selbst das Protokoll von Politikern einem immer gleichen Prozedere: Hände schütteln, Debatten, Pressekonferenzen. Wir glauben ja, in sehr schnelllebigen Zeiten zu leben und dass wir alles anders machen als früher – der Blick zurück belehrt uns eines Besseren.
Welche Themen werden denn heute ähnlich verhandelt wie auch vor 100 Jahren?
Die 1920er-Jahre waren zum Beispiel eine Zeit, in der die Rolle der Frau in der Gesellschaft diskutiert wurde. Einer der Startschüsse war das Frauenwahlrecht 1919: Eine Neuverhandlung der Geschlechterordnung begann. Die Argumente und Hintergründe sind damals sicherlich andere gewesen, aber die Tatsache, dass wir uns darüber unterhalten müssen, war damals genauso bewusst und Thema. Mit der heutigen Brille fällt auf, dass diese gesellschaftliche Entwicklung bereits vor 100 Jahren öffentlich sehr präsent war. Das „erstarkende“ Geschlecht wurde zu einem beliebten Bildthema. Auch Modernisierung bedeutete vor 100 Jahren zwar etwas anderes, aber sie wurde genauso repräsentiert und gefeiert wie heute. Ich glaube, das kann man an diesen historischen Zeitschriften sehr schön ablesen.
Zum Abschluss noch eine letzte Frage: Was ist Ihr Lieblingsheft in der Ausstellung?
Das Illustrierte Blatt aus Frankfurt ist von den wochenaktuellen Zeitschriften mein Favorit. Immer wieder überraschend und besonders. Außergewöhnlich war das Titelblatt mit Karl Blossfeldts Pflanzendarstellungen von 1926. Üblich waren zu dieser Zeit Titelbilder mit Filmstars oder Politikern – und dann kommt das Illustrierte Blatt mit dieser vollkommen atypischen, fast schon kontemplativen Makrovergrößerung einer Pflanze. Das muss die Leute damals umgehauen haben und hat bis heute seine Anziehungskraft bewahrt.
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