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„Four Lines Oblique Gyratory“ von George Rickey

Vorm Eingang des Städel bewegt sich etwas: eine kinetische Skulptur von George Rickey. In bis zu elf Metern Höhe schwingen ihre Stahlarme im Takt des Windes. Wir haben den schwindelerregenden Aufbau begleitet.

Sarah Omar — 9. September 2016

An diesem spätsommerlichen Septembertag spürt man die warmen Sonnenstrahlen noch einmal besonders intensiv. Den schwachen Wind, der vor dem Haupteingang des Städel weht, hingegen kaum. Man muss schon hinsehen, um zu merken, dass sich in der Luft tatsächlich etwas tut: Seit ein paar Tagen registriert eine kinetische Skulptur des US-amerikanischen Künstlers George Rickey (1907–2002) selbst feinste Luftbewegungen – und übersetzt sie in elegante, gelassene Bewegungen.

Ein Y-förmiger Mast bildet die filigrane Basis von „Four Lines Oblique Gyratory“ (1972), vier spitz zulaufende lange Stahlarme sind an seinen oberen Enden eingehängt.  Sie folgen den Vorgaben von Wind und Schwerkraft, schwingen teilweise bis zu zwölf Metern Spannweite aus, strecken sich mal elf Meter in die Höhe, verharren ein paar Sekunden – um dann wieder dem nächsten Windimpuls zu folgen. Die zierlich-gelenkige Konstruktion wirkt einerseits wie das Kontrastprogramm zur quergelagerten Fassade des historischen Museumsbaus, der seit 1879 unverrückbar an seinem Platz steht. Andererseits strahlt auch sie Ruhe aus,  Zweigen ähnelnd, die mit dem Wind gehen, ohne ganz nachzugeben.

Auf und ab, hin und her

„Schwingen, Kreisen, Pendeln, Vibrieren von Teilen, die sich dabei durch den Raum bewegen – auf und ab, hin und her, einmal rechts einmal links -, und die Betonung dieser Bewegungen durch Beschleunigen und Verlangsamen – viel mehr Möglichkeiten gibt es da nicht“, so beschrieb Rickey selbst das Spektrum seiner künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus seinen „Arbeitsmaterialien“ Wind und Schwerkraft ergeben, „aber das bescheidene Spektrum reicht aus, um daraus Meisterwerke entstehen zu lassen.“

George Rickey, 1907 in South Bend, Indiana, geboren, ist einer der wichtigsten Vertreter der kinetischen Kunst. Bewegte Kunstobjekte beschäftigten schon die Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, von den Futuristen über Naum Gabo, Marcel Duchamp oder László Moholy-Nagy bis zu Alexander Calder. Vor allem Calders Mobiles (zwei davon befinden sich übrigens in der Städel Sammlung) inspirierten Rickey zu eigenen kinetischen Arbeiten – und dazu, es anders zu machen als sein Vorbild.

Während sich Calder für die Form des bewegten Objekts interessierte, für eine insgesamt eher malerische Wirkung von Skulptur, wollte Rickey der Bewegung selbst eine Form geben. Dabei spielte das Material eine untergeordnete Rolle: „Zwar musste ich Material haben, aber ich wollte nicht, dass Material und die Form des Materials im Vordergrund stehen.“ Auf einem Schrottplatz sammelte er 1950 Stahlreste ein, und hatte damit seinen zukünftigen Werkstoff  gefunden. Der minimalistische Stahl sollte im Dienste seines primären Materials, der Naturkraft, stehen.

Künstler und Ingenieur

Anfang der Vierzigerjahre hatte Rickey seine ersten, noch stärker figürlichen Mobiles entwickelt – in der Werkstatt des U.S. Army Air Corps, wo er seinen Militärdienst leistete und als Ingenieur arbeitete. Zuvor hatte er Geschichte in Oxford sowie Kunst in Paris studiert und seinen Lebensunterhalt in den USA als Lehrer verdient. Er unterhielt Kontakte zu Lyonel Feininger und lernte am Institute of Design in Chicago László Moholy-Nagy kennen, später auch Naum Gabo. In New York studierte er Kunstgeschichte, in Iowa Radiotechnik. Rickey, der Künstler und Ingenieur, konnte in seinen kinetischen Stahlskulpturen beide Interessen einfließen lassen.

In Deutschland wurde Rickey 1968 mit seinem Auftritt auf der documenta IV einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im selben Jahr ermöglichte ihm ein DAAD-Stipendium einen Aufenthalt in Berlin. Die Verbindung zu Deutschland blieb: Rickey verbrachte auch später – kaum zu glauben – regelmäßig die Wintermonate in Berlin, um vor dem noch unfreundlicheren Wetter in seiner Heimat in Upstate New York zu fliehen. Rickeys Verhältnis zu Wind und Wetter scheint ein spezielles gewesen zu sein.

„Four Lines Oblique Gyratory“ hat es nun vom Garten des George Rickey Estate in Upstate New York ebenfalls nach Deutschland, in die milderen Gefilde Frankfurts verschlagen. Auch wenn der Wind am Main mal etwas stärker weht, die Skulptur wird es nicht aus der Ruhe bringen.

George Rickeys „Four Lines Oblique Gyratory“ (1972 / VG Bild-Kunst) vor der Frankfurter Skyline. Zu verdanken hat das Städel die Skulptur einer sehr großzügigen und engagierten Mäzenin, deren Anliegen es ist, das Museum und – ganz im Sinne des Museumsstifters – ihre Mitbürger zu beschenken.

George Rickeys „Four Lines Oblique Gyratory“ (1972 / VG Bild-Kunst) vor der Frankfurter Skyline. Zu verdanken hat das Städel die Skulptur einer sehr großzügigen und engagierten Mäzenin, deren Anliegen es ist, das Museum und – ganz im Sinne des Museumsstifters – ihre Mitbürger zu beschenken.


Die Autorin Sarah Omar arbeitet in der schnelllebigen Onlinekommunikation. In Zukunft wird sie auf dem Weg ins Büro öfter den Haupteingang benutzen und kurz vor Rickeys Skulptur innehalten.

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