Wer als Mann des 16. Jahrhunderts etwas auf sich hielt, ließ sich repräsentativ porträtieren. Wer aber sind die vielen erotischen Frauen in der venezianischen Renaissance-Malerei?
Fast könnte man meinen, dass die Frauen im Venedig des 16. Jahrhunderts schöner waren als etwa die Italienerinnen in Florenz oder Rom. Das suggeriert uns zumindest die Kunstgeschichte, hat Venedig doch in der Renaissance ein ganz eigenes Phänomen hervorgebracht, das wir heute Belle Donne nennen, also „schöne Frauen“. Die Frauenbilder sind nicht nur schön und oftmals erotisch aufgeladen – sondern mindestens genauso rätselhaft. Denn keine der Damen kann einer Persönlichkeit zugeordnet werden – ganz im Gegensatz zu den Männerporträts, die in großer Anzahl identifiziert werden können. Ein Zufall? Wohl kaum.
In der Ausstellung Tizian und die Renaissance in Venedig widmen wir den Belle Donne einen eigenen Raum. Eine von ihnen ist Palma il Vecchios Junge Frau in blauem Kleid mit Fächer aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum: Fast schüchtern und auffordernd zugleich mustert sie uns aus dem Augenwinkel. Mit ihrer linken Hand lüftet sie das über die Schulter gelegte Seidentuch. Auffällig sind vor allem ihr weites Dekolleté mit der blassen, porzellanartigen Haut, die blonden Haare und die feinen, ebenmäßigen Gesichtszüge. Palma hat mehrere solcher Frauenbilder gemalt und dabei scheinbar immer auf dasselbe Modell zurückgegriffen, so auch in einer Version aus dem Museo Poldi Pezzoli in Mailand.
Jene junge Frau ist jedoch wesentlich gewagter in Szene gesetzt. Ihr weißes Untergewand und der schwere Brokatmantel sind ihr von den Schultern gerutscht und entblößen ihre nackten Brüste. Die beiden Gemälde wirken wie Vorher-Nachher-Bilder – man wartet nur darauf, dass sich die Wiener Schönheit die Haare und die Schleifen ihres Kleides löst.
Gerade weil die Belle Donne oft so explizit erotisch dargestellt wurden, liegt eine Interpretation vielleicht besonders nahe: Handelt es sich bei den Frauen um Kurtisanen, die Edelprostituierten der venezianischen Oberschicht? Die exponierte Dame aus Mailand trägt traditionell sogar den Beinamen La Cortigiana. Doch waren die Kurtisanen teils berühmte, namentlich bekannte Persönlichkeiten. Wie kommt es dann, dass man keine Frau identifizieren kann? Außerdem ist überliefert, dass sie eher darauf bedacht waren, in Kleidung und Erscheinungsbild respektabel zu wirken – so freizügig wie die Mailänder Bella Donna hätten sie sich wohl kaum darstellen lassen.
Auch stand schon die Überlegung im Raum, ob es sich bei den Belle Donne nicht um Verlobte oder Bräute handeln könnte, deren Ehemänner die erotischen Gemälde in Auftrag gegeben haben. Aber auch hier sind in keinem Fall ein Auftraggeber oder die dargestellte Braut bekannt.
Wenn wir keine der Damen als Kurtisanen oder Bräute identifizieren können – handelt es sich am Ende etwa um allegorische Figuren? Bartolomeo Venetos berühmte Schöne aus der Städel Sammlung legt diese Vermutung nahe: metallisch, etwas bizarr, glänzen die Locken der Frau; mit entblößter Brust und dem Sträußchen in der Hand wird sie traditionell als Idealbild einer jungen Frau als Flora betitelt – Flora, die Blumengöttin des Frühlings.
Ob Kurtisanen, Bräute oder Allegorien – wir können keine dieser Interpretationen mit Sicherheit widerlegen. Doch ein Blick in die Liebeslyrik jener Zeit deutet auf eine weitere, viel wahrscheinlichere Möglichkeit hin. Seit dem berühmten Dichter Petrarca im 14. Jahrhundert wird ein ganz bestimmtes poetisches Ideal weiblicher Schönheit besungen: weiße makel- und faltenlose, porzellan- oder alabasterartige Haut, ebenmäßige Gesichtszüge und goldblonde, gelockte Haare. Diese Dichtungen lesen sich wie eine Bildbeschreibung unserer Belle Donne. Die Maler treten hier also in einen Wettstreit mit den Dichtern, indem sie die beschriebenen Idealbilder scheinbar zum Leben erwecken.
Oftmals schlüpfen die Belle Donne auch in bekannte Rollen. Lorenzo Lottos Judith zeigt die biblische Heldin mit dem abgeschlagenen Haupt des Feldherren Holofernes, der ihre Heimatstadt belagert hat. Sie betört ihn zuerst mit ihrer Schönheit, um ihn dann aus dem Hinterhalt zu töten und so das eigene Volk zu befreien. Lotto stellt den Höhepunkt der Geschichte dar: Wild flattern Judiths Seidentuch und die Falten ihres Kleides, als sie gerade vom Tatort flieht. Der Künstler inszeniert sie überaus prächtig mit kostbarem Schmuck. Ihre sinnliche Anziehung ist unübersehbar, ihre Brüste zeichnen sich deutlich ab. Wir haben es hier mit einem religiös motivierten Rollenbild tun: Judith verkörpert ein weibliches Ideal, das durch die Erlösung bringende Tat definiert ist. Lotto legt den Schwerpunkt auf ihre erotische Ausstrahlung und weibliche Verführungskraft – Eigenschaften, die alle Belle Donne teilen.
Tizians Bildnis der Clarice Strozzi hängt ebenfalls in dem Saal mit den Belle Donne. Was hat das kleine, süße Mädchen mit den erotischen Frauenbildern zu tun? Tizian malt die zweijährige Clarice in der Rolle einer Braut in einem weißen Kleid: Der Hund steht für die eheliche Treue, der Schmuck deutet ihre üppige Mitgift an, die ringenden Putti vorne rechts sollen der zukünftigen Mutter Glück bringen und lassen auf männliche Nachkommen hoffen, während die Schwäne im Hintergrund ewig andauernde Liebe symbolisieren. Das Gemälde liefert also einen Blick in Clarices Zukunft als Ehefrau und Mutter. Wir haben es zwar im Gegensatz zu den anderen Belle Donne mit einer historischen Persönlichkeit zu tun – jedoch in der idealisierten Rolle einer vollkommenen Braut. Damals war dieser Ausblick fürsorglich gemeint. Bei uns heutigen Betrachtern bleibt aufgrund des kindlichen Alters ein zwiespältiges Gefühl der Befremdung.
Auch wenn das Geheimnis um die zumeist unbekannten Damen damit ein wenig gelüftet wurde: Eine der Belle Donne von besonderer Raffinesse fehlt hier und gibt uns noch Rätsel auf. Was es mit Sebastiano del Piombos junger Frau auf sich hat – davon an dieser Stelle bald mehr.
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