Die Kuratoren der Ausstellung „Erwin Wurm: One Minute Sculptures“ haben für Euch die besten Texte, die zum Werk des österreichischen Künstlers erschienen sind, ausgewählt. In den nächsten Wochen werden wir hier einige davon in gekürzter Fassung wiederveröffentlichen. Der erste Beitrag ist von Helmut Friedel. Der deutsche Kunsthistoriker (*1946 in München), von 1990 bis 2013 Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München, hat zahlreiche Ausstellungen kuratiert und war an mehr als 230 Publikationen als Herausgeber und/oder Autor beteiligt.
Ich wollte eigentlich Malerei studieren, aber durch einen Zufall wurde ich Bildhauer. Daher fing ich an, darüber nachzudenken, was Bildhauerei heute sein könnte. Dies führte mich zur Suche nach Leere, Möglichkeit und Volumen, [...] den Grundqualitäten von Bildhauerei.
Erwin Wurm
Ein Bildhauer also, der Maler werden wollte und der die Plastik so zu öffnen und zu erweitern verstand, dass Leere, Staub und bloße Wörter zu seinen Skulpturen zählen. Das klingt zunächst nach einer eher trockenen, konzeptuellen Kunstauffassung und nach total veraltetem Medienstreit. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter jedoch ein äußerst abwechslungsreicher und differenzierter Umgang mit dem Bild als Medium. Der alte Streit über den Vorrang der Künste, die Frage, welcher Gattung der Vorrang zusteht, wurde von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert geführt, obwohl herausragende Künstler wie Leonardo da Vinci oder Michelangelo Buonarroti sich in beiden Ausdrucksformen des Bildes, der Malerei wie der Bildhauerei, gleichermaßen auszudrücken verstanden und die Frage daher eigentlich schon längst obsolet sein müsste. Die von Lenbach, Stuck, Liebermann und anderen gemalten ›Selbstbildnisse im Frack‹ sollten jedoch beweisen, dass die Malerei keine »schmutzige« Beschäftigung ist, die eben deshalb höher steht, weil sie in Gesellschaftskleidung ausgeführt werden kann. Der Bildhauer hingegen arbeitet körperlich und macht sich dabei dreckig. Dieser Auffassung widersprach Marcel Duchamp radikal, indem er an die Stelle des unter Schweiß bearbeiteten Steins oder der modellierten, abgeformten und gegossenen Bronze ein Ready Made als bildhauerischen Akt setzte: einen gefundenen Flaschentrockner, ein Fahrrad auf einem Akademiehocker oder ein Urinoir. Seither lässt sich durch vorgefundenes, bereits gestaltetes Material vieles plastisch-bildnerisch ausdrücken, freilich ohne den formenden Eingriff des Künstlers dadurch aufzugeben. In der Kunst von Joseph Beuys begegnet man der gleichberechtigten wie souveränen Durchdringung beider Gestaltungsformen, dem Fundstück wie dem geformten Bild. Die Lebendigkeit der Arbeiten resultiert aus der Notwendigkeit der Botschaft, um die es Beuys dabei ging. Als Erwin Wurm nach einem Ausgangspunkt seiner plastischen Arbeit suchte, musste er zwangsläufig auf diese Vorläufer stoßen und sich mit ihnen befassen. Auch Vorstellungen über die Ausweitung des Bildrepertoires auf die Pop Kultur und auf das Alltägliche, die Andy Warhol eingebracht hatte, konnte Wurm nicht unbeachtet zur Seite drängen: Das Geheimnisvolle ist selbst im Nächstliegenden zu sehen und zu erkennen.
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Erwin Wurm beginnt seine Suche nach »Leere, Möglichkeit und Volumen, [ . .. ] den Grundqualitäten von Skulptur« 1994 mit der Photoarbeit Der schlafende Fabio (der Künstler über 2 Monate im Schlaf). Sie zeigt den ruhenden Körper eines auf einem Feldbett liegenden und in eine Wolldecke gehüllten Mannes – seine Traumweit ein Universum. Staub hat sich über den Schlafenden gelegt und die Farbigkeit des lebendig Realen bereits in ein weißliches Grau akademischer Gips- oder Steinskulpturen überführt. Staub ist bei Erwin Wurm bereits 1990 zum plastischen Bildmaterial bestimmt worden. Mit Staubablagerungen verbinden wir allgemein Zeit wie Vergänglichkeit. Indem Wurm die Wiederholbarkeil der Staubarbeiten postuliert und Zertifikate zum Erstellen von Staubskulpturen ausgibt, macht er diese dauerhaft, erhebt sie zu unzerstörbaren, der Zeit trotzenden »Denkmälern«. Sein bildnerisches Universum besteht bis dahin aus Skulpturen aus Blech, die teilweise mit dickflüssiger, grauer Farbe bemalt sind (Kraftwerk, 1986); aus Blechzylindern und Quadern, die mit hölzernen afrikanischen Skulpturen kombiniert sind (ohne Titel, 1987); aus hohlen und massiven Volumen, Hülle und Kern, die Wurm in einer Video-Performance (ohne Titel, (A-B-C, B-C-A oder C-A-B), 1990) auf den Punkt brachte, als er eine runde Dose plan hämmerte, um sie von der 3. in die 2. Dimension herunter zu brechen.
Im gleichen Jahr entdeckt Wurm in den Staubskulpturen (1990 bis 1993) die Virtualität der Skulptur. Die Staubspuren auf Sockeln, in Glasvitrinen und selbst unter dem zylindrischen Stülpglas für Verehrungsgegenstände verweisen auf »verlorene« Dinge aus vergangener Zeit. Man Rays Staubphotographien (Elevage de Poussiere, 1920) von Duchamps Großem Glas eröffnen eine neue Sehebene. An die Stelle der Transparenz tritt in den Staubablagerungen eine Art von unberührbarem Relief, ein Hauch von Körperlichkeit. in den Wurm'schen Arbeiten wird durch den Staub die Abwesenheit eines vormals vorhanden Objektes sichtbar. Volumen und Körper werden als vorstellbare, imaginierte Möglichkeiten begriffen, die hier auf der Basis einer Staubkontur und ggf. durch die äußeren Begrenzungen des umgebenden Gefäßes einen Platz für eine Konkretisierung angeboten bekommen, ohne jemals dezidiert benennbar zu sein.
In der Folge (ab 1992) eigneten sich Kleidungsstücke, zunächst Pullover, für konkrete Formen dreidimensionalen Schaffens. Doch es ist nicht der solide Körper, der Wurm interessiert, sondern die ihn umschließende, schützende Hülle, die zivilisatorische Trennschicht zwischen dem nackten Körper und der Umwelt. Das akademische Interesse am Körper konzentrierte sich über Jahrhunderte auf den Akt, den nackten Körper. Ihn galt es so nachzuahmen, dass an der Oberfläche des Marmors oder eines anderen Materials (wenigstens) ein Hauch Lebendigkeit aufscheinen konnte. Pygmalions Wunschbild erotisierte ganze Künstlergenerationen wie auch deren Publikum. Das zentrale künstlerische Problem bestand in der Wiedergabe von Haut. In den Darstellungen des geschundenen Marsyas und des Apostels Bartholomäus wird das akademische Thema des Muskelmannes und seiner Hauthülle künstlerisch bearbeitet. Kleidung ist nichts anderes als eine weitere, zusätzliche Körperhülle, die man ganz einfach an- und ausziehen kann. die historisch wie soziologisch geprägt ist. Sie als plastisches Material zu verabsolutieren, schafft neue Realitätsbezüge.
Wie schon bei den Staubskulpturen werden dem Betrachter bzw. Benutzer dieser Kunstwerke Gebrauchsanweisungen (so genannte Instruction Drawings) angeboten, anhand derer er die vom Künstler erdachten und bestimmten Formen nachbilden kann. Durch diesen Akt der individuellen »Mani-Pulation« des Werkes durch seine Rezipienten kommen sich Künstler und Betrachter in einem Punkt sehr nahe: im Moment der Ausführung. Die durch Zeichnung und Text fixierte Idee tritt im Augenblick der Gestaltung bzw. Ausführung durch den Rezipienten zurück, so dass sie im Werk selbst unsichtbar wird.
Ebenfalls 1992 entsteht das Farbvideo 59 Positions, das in einer vom Künstler veranlassten Choreographie übergestülpter Kleidungsstücke einen Reigen absurder Körperformen hervorbringt, die wir bis dahin allenfalls in den Bildschöpfungen eines Hieronymus Bosch zu sehen bekamen. Für kurze Momente – bis eine 20 Sekunden dauernde Videoaufnahme gemacht ist – entstehen so fremde, seltsame Körperwesen. Die Bezifferung der Positionen im Werktitel weist in eine irritierende Richtung, denn die präzise Festlegung auf die Zahl 59 widerspricht der Beliebigkeit der vorhandenen, schier unbegrenzten Möglichkeit an Formen. Suchen wir nach einem tieferen Sinn dafür, beginnen wir zu ahnen, dass dieses Ansinnen vergeblich sein könnte, es sei denn, wir akzeptieren, dass der Künstler diese Arbeit an einem für ihn entscheidenden Punkt beendet hat. In den 59 Positions führt Erwin Wurm unübersehbar den Aspekt des Absurden in seine Arbeit ein. Und er ist dabei geblieben: Absurde Komponenten finden sich seither eigentlich in all seinen Arbeiten.
Wirft man einen weiteren Blick auf das Werk von Erwin Wurm, so merkt man schnell, dass die Konventionen einer begrifflich klaren Abgrenzung des künstlerischen Handelns aufgegeben worden sind. Schmutzig macht sich hier nicht der Künstler, sondern allein der Betrachter, der den Anweisungen des Künstlers folgt und kopfüber in einem Abfalleimer oder einem Gully steckt. Wahlweise kann man Wurms Bildregie folgend auch die Wohnung eines anderen beschmutzen, indem man ihm auf den Teppich pinkelt. Man kann aber auch jemandem in die Suppe spucken, in den Ausschnitt fallen, unter den Rock starren oder sich in jeder anderen denkbaren Weise gegen die Konvention verhalten. Allein dem Künstler bleibt es in diesen Fällen vorbehalten, Regie zu führen, Requisiten zu stellen, Anweisungen zu geben, zu zeichnen, mit Worten zu beschreiben oder durch Photos zu fixieren. Wurm etabliert eine Handlungsstrategie des distanzierten Beobachters, der »Bilder« entstehen lässt und sich mit voyeuristischem Vergnügen an ihnen freut. Der Künstler also als unbeteiligter Betrachter einer Weit, die er sich ausdenkt?
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Doch ist Wurm wirklich unbeteiligt? Dem widerspricht zweierlei: Einmal scheut sich der Künstler nicht, die von ihm vorgeschlagenen skulpturalen Modelle auch an sich selbst anzuwenden, um mal als Idiot, mal als angefetteter Mensch und mehrmals als One Minute Sculpture aufzutreten. Der Künstler wird damit selbst zum Modell. Hatte Piero Manzoni 1961 ein Aktmodell als Sculture viventi auf einen Sockel gesetzt, signiert und damit zum Kunstwerk erhoben, also eine Figur ohne den Umweg eines mimetischen Prozesses zur Kunst gemacht, so heben sich Maler und Modell bei Wurm vollends auf, indem sie identisch werden. Die Bildidee des Tableau vivant wurde bereits von Gilbert & George aufgegriffen. In den Singing and Living Sculptures wurden sie zu temporären »Standbildern«, zum Beispiel als sie 1970 in der Nigel Greenwood Gallery auf einem Tisch sangen. Dadurch blieb der denkbar engste Bezug des Werkes zum Künstler bestehen. Erwin Wurm erlaubt seinen plastischen Ideen aber nun, über ihn hinaus zu wachsen und durch andere Personen Gestalt anzunehmen. Zum anderen bleibt einem beim Betrachten der plastischen Arbeiten von Erwin Wurm das Lachen häufig im Halse stecken, denn so völlig unvorstellbar, so völlig der Realität entrückt sind selbst die lächerlichsten seiner Bilder nicht. Die Formfrage bleibt immer im Vordergrund des Gestaltens, ebenso bzw. in ganz besonderem Maße die Hinfälligkeit und die menschliche Tragik, die in Wurms Bildschöpfungen zum Ausdruck kommen und durch die er ein Abgleiten ins bloß Witzige zu verhindern versteht.
Neben den interaktiven Arbeiten mit Kleidern (59 Positions, 1992, oder Palmers, 1997) entwirft Erwin Wurm 1992 auch Pulloverskulpturen, bei denen so viele Überzieher ineinander gestopft worden sind, dass sich die »Skulptur« schließlich selbst trägt. In einem anderen Fall wird ein Pullover oder ein T-Shirt in einer Art Umkehrung des Vorgangs in den Hohlraum eines gestürzten Holzplattensockels gespannt, so dass er sich als Negativform zeigt, als Müllkübel, in den alles gesteckt werden kann und der alles schluckt. Eine Skulptur also, die im Gegensatz zur klassischen Figur nicht nach außen hin auftritt, sondern in sich hinein reicht: Der Sockel determiniert die maximale Größe der Skulptur, ihre Form liegt in seinem Inneren (verborgen).
In den One Minute Sculptures spielen Sockel, das klassische Aufstellungsmittel der Skulptur, dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle. Alle möglichen Geräte und Gegenstände wie Früchte, Flaschen, Bälle, Besen, Tische und Stühle führen im Verbund mit Menschen ein buntes Leben, können aber auf Personen vollständig verzichten. Der Künstler steuert zu diesem Typ von skulpturalen Arbeiten allein die Anweisungen bei: Ausführung und Erleben wird auch hier anderen überlassen. Diese Form einer sprichwörtlich demokratischen plastischen Bildnerei hat in der Tat in Internet-Foren Einzug gehalten, wird dort kommuniziert und teilweise durch neue, eigene Erfindungen fortgesponnen. Dadurch wird eine über die demokratischen Versuche der 1960er- und 1970er-Jahre hinausgehende Teilnahme eines breiteren Publikums am Kunstgeschehen erreicht, denn durch die direkte Einvernahme einer plastisch-skulpturalen Idee seitens eines nahezu uneingeschränkt großen Publikums entwächst das Kunstwerk nicht nur dem Künstler, sondern es sprengt alle limitierenden institutionellen Grenzen.
Die Einzelaktionen der Künstler des Wiener Aktionismus - Günter Brus (Wiener Spaziergang, 1965); Rudolf SchwarzkogIer, Peter Weibel und insbesondere VALIE EXPORT (Tapp und Tast Kino, 1968) –, die auf Provokation und Herausforderung angelegt waren und die den vermuteten, ja angestrebten Widerstand der Gesellschaft auch fanden, sind in Wurms Arbeiten zu einer gelassenen, melancholischen Selbstverständlichkeit geworden. Body Language, die durch körperlich Präsenz in urbane Räume vordrang, ist bei ihm zum Ausdrucksmittel individueller Haltung gelangt, eben weil sie sich in jeder beliebigen Person, die sich darauf einlässt, realisiert.
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Aus den Pulloverskulpturen und den 59 Positions entstand auch die Videoarbeit 13 Pullover, bei der Fabio, dem wir bereits oben als zwei Monate lang schlafendem Künstler begegnet sind, die genannten 13 Kleidungsstücke übereinander anzog. In einem Video von 1992 legte Fabio dann nicht nur seine Pullover, sondern seine komplette Garderobe an. In beiden Fällen entstanden Volumenvergrößerungen, Unförmigkeiten, aber auch konkret erfahrbare Körperveränderungen: Fabio wurde dick und fett! Diese Veränderbarkeit des Körpers, von der gleich mehrere Industrien leben, hat Wurm 1993 als Anleitung zum Fettwerden in 8 Tagen in dem Buch Konfektionsgröße 50 zu 54 zusammengefasst. Für Photoarbeiten hatte Urs Lüthi die Körperveränderung durch Gewichtszunahme bereits 1976 vollzogen. Auch er schreckte nicht davor zurück, sich selbst als blöd darzustellen. Im Unterschied zu dieser individuellen Darstellung des Künstlers »als etwas« wird bei Wurm daraus ein über den Künstler hinausreichendes Konzept, das sich mit einem heutzutage omnipräsenten Problem der Industriegesellschaften befasst: der Überproduktion. Die Folgen sind Auswüchse des Konsums durch übermäßigen Verzehr, aber auch die der Kauflust, Kaufsucht oder Kaufwut geschuldete Verdickung von Menschen und die Vermüllung ihrer Räume.
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Aus diesen Körperstülpungen, aus dieser unförmigen, ins Amorphe hinübergleitenden Körperlichkeit und durch das Ausblenden von Körperpartien erwachsen sinnbildhafte Situationen. Wenn Erwin Wurm Menschen in Müllbehälter oder Gullys, in Sofas, Kühlschränke und andere Ab-Orte eintauchen lässt, macht er seine Distanzierung von der Vorstellung einer Unversehrtheit des Körpers sichtbar. Er führt damit die Arbeit am Torso fort, die seit Rodin ein zentrales Thema der Bildhauerei ist. Der »perfekte Körper« ist angesichts des Wissens um die Aufhebung seiner Integrität absolet geworden. Nachdem Wilhelm Conrad Roentgen den menschlichen Körper durchleuchtet und damit seine äußere Hülle als relative Hülle entlarvt hat, nachdem Sigmund Freud die Bedeutung des Unbewussten als Bestandteil der Wirklichkeit aufgezeigt hat, nachdem wir millionenfach Photos von geschändeten und ermordeten Menschen gesehen haben, hat sich das klassische, tradierte Bild vom Menschen nicht mehr glaubhaft darstellen lassen.
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In den jüngsten skulpturalen Arbeiten schließt sich ein Kreis zu den früheren Werken, als Erwin Wurm Kleidungsstücke, zumeist Second-Hand-Ware, auf Holzkisten nagelte. Diese Holzwürfel und -quader hätten Sockel für Skulpturen sein können. Die strenge Geometrie kontrastiert dabei eigentümlich mit der Flexibilität und der »Lebendigkeit« von Kleidung. Bei den neuen Plastiken sind die Kleider-Kästen, das Textil nun in gestrickter Ausführung, auf nackten Beinen platziert. Barfuß oder mit eigenartigen Strickschuhen oder Socken bekleidet führen diese herren- bzw kopflosen Beine mit den farbigen Kleidungskästen darüber ein seltsames Ballett auf. Hier übernimmt die Skulptur den Aspekt der Formfindung, den früher die Performance erzielte. Einzelne Körper-Kleidungs-Konfigurationen aus dem Video 59 Positions sind nun zu eigenen Plastiken geformt. In Blei, Gummi, Bronze, Aluminium und anderen Materialien gegossen, erscheinen – in Relation zu den ursprünglichen Körpern der Akteure verkleinert, aber vergrößert in Relation zum Monitorbild – befremdliche Wesen, die z. B. in Hockhaltung einen Pullover in einer bloßen Höhlung über den nicht vorhandenen Kopf ziehen, so dass anstelle des Körpers ein dunkles, herzförmiges Loch bleibt.
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Aus dem bisher Gesagten sollte eines deutlich geworden sein: nämlich dass es Erwin Wurm in seiner Arbeit um BOTSCHAFT geht, die sich in immer neue Formen und Körperlichkeit kleidet. Das Mitteilungsbestreben wird sinnlich erfahrbar. Manch flüchtige Geste ist zur Permanenz verfestigt und wird durch seine Arbeit zum stehenden Bild.
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Ende 2008 publizierte die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT unter dem Titel 44 VORSCHLÄGE – Eine soziale Skulptur eine Ansammlung von politisch höchst unkorrekten, teilweise widerwärtigen Sprüchen und Behauptungen. Es besteht und bestand kein Zweifel daran, dass diese Sätze nicht der Meinung des Künstlers entsprechen, sondern als mehr oder weniger unterschwellige Beleidigungen und Aggressionen Bestandteil unserer aktuellen gesellschaftlichen Realität sind. Diese Behauptung stellte Erwin Wurm mit seiner Veröffentlichung jedenfalls auf. Ob er damit die Grenzen des gesellschaftlichen Konsens überschritten hat, sei dahingestellt, denn schließlich handelte es sich um eine deutlich gekennzeichnete künstlerische Intervention. Jeder Satz war in einer anderen Schriftgröße und und in einer anderen Schrifttype gesetzt und behauptete so seine eigenständige Form. Dass die Sätze auf rosafarbigen Grund gedruckt wurden, der stark an die Financial Times erinnert, half, diesen Teil der Zeitung als Block vom Rest abzusetzen und zudem einen Bezug zur »Finanzwelt« anzudeuten. Da die kommerzielle Werbung- die Werbeplätze waren bereits zuvor verkauft worden - neben den provokanten Sätzen stehen blieb, verschoben sich die Perspektiven in beiden Richtungen: Werbung wurde in die Nähe des Obszönen gerückt, während die finsteren Sätze der Vox populi den Geruch von Werbung annahmen. Apropos obszön: Für eine Preisverleihung entwarf Wurm eine (saure) Gurke – als kleines oder großes, leicht obszönes Zeichen eines lächerlichen, vielleicht auch blödsinnigen Sieges. Doch am Ende überwiegt auch hier die Parodie der Provokation, so dass der zunächst offensichtliche Affront doch noch zur Auszeichnung wird. Sauer sein, müssen also doch nur die, die nicht bedacht worden sind. Dass Wurm aus dieser Idee eine Serie von über 40 Arbeiten entwickelt und diese mit dem Titel Selbstportrait als Gurken versehen hat, beweist wieder einmal mehr, dass er die glückliche Gabe besitzt, einen Schritt zur Seite treten zu können, um über sich selbst zu lachen.
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