Spätestens seit Gottfried Kellers Novelle (1874) weiß man, dass Kleider Leute machen. Aber was machen Kleider, wenn sie im Museum als Kunst ausgestellt werden? Die bildhauerischen Möglichkeiten von Textilien sind immens. Vor allem, wenn man Kleidung auf spielerische Art ihrer normativen Funktion enthebt und sie dadurch an die Grenzen ihrer Dehnbarkeit führt. Welche Rolle Kleidung oder vielmehr Textilien allgemein in der zeitgenössischen Kunst einnehmen können, wird in der aktuellen Ausstellung Erwin Wurms im Städel Museum deutlich.
Die antiken griechischen Körperideale in der Kunst haben Erwin Wurm nach eigener Aussage immer gelangweilt. Der Körper mag zwar perfekt aussehen, wirkt aber irgendwie auch leer. Statt mit dem Körper beschäftigt er sich in seiner Kunst eher mit der Bekleidung des Menschen, die der Österreicher auch als zweite Haut bezeichnet. Sie formt, definiert und bildet den Körper nach. Doch schützt sie nicht nur vor Kälte und fremden Blicken, sondern gibt auch Auskunft über Status und Stil. So sind bei der Kleidung für Wurm psychologische, soziale und funktionale Aspekte miteinander verwoben. Der Künstler interessiert sich vor allem für das, was von der Norm abweicht; er nennt das auch „Deformation“. Diese ist schwer einzuordnen, zieht stets Aufmerksamkeit auf sich und führt dazu, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen.
In der aktuellen Ausstellung im Städel Museum tauchen die textilen Skulpturen Wurms in zwei seiner Videoarbeiten auf: Splitternackt betritt Fabio in dem Film „Fabio zieht sich an (Gesamte Garderobe)“ (1992) einen kahlen Raum. 26 Minuten später streift er sich Handschuhe über, setzt einen Hut auf und verschwindet wieder. In der Zwischenzeit beobachtet man ihn beim Ankleiden. Das ist spannend, weil der Akteur die Kleidung nicht einfach an- und auszieht, sondern alle Teile nacheinander übereinander zieht. Die Vorstellung, so viel Kleidung am Körper zu tragen, ruft beim Betrachter unwillkürlich ein beklemmend-klaustrophobisches Gefühl hervor. Doch Fabio streift sich die vielen Hemden, Pullover und Jacken, die Unter- und Überhosen so stoisch über, als wäre es seine alltägliche Verrichtung. Die Bewegungen werden unter dem Gewicht des Stoffs ausladend und behäbig, das Volumen dehnt sich und die Form wird zur Deformation. Dieser skulpturale Prozess lässt sich Stück für Stück verfolgen. Die Skulptur entsteht aus der Handlung und schafft sich damit aus sich selbst heraus, was auch in den „One Minute Sculptures“ beobachtbar ist, wenn der Museumsbesucher zur Skulptur wird.
In dem zweiten Film „59 Stellungen“ (1992) beschäftigt sich Wurm mit der Frage nach dem lebendigen Kunstwerk. Alle zwanzig Sekunden ist ein neues monochromes Kleidungsstück zu sehen, das auf eigenwillige Art über eine nicht zu identifizierende Person gestülpt wurde. Die einzelnen Kleidungsteile sind mal auseinandergezogen oder ineinander verknäult, mal zusammengebunden oder umgedreht. Doch stets wirken die Figuren, als könnten sie jederzeit umkippen oder zerplatzen. Die Textilien erlauben Wurm die Erzeugung von Momenten totaler Spannung und die Skulpturen strahlen so gleichzeitig Kraft und Fragilität aus. Es handelt sich bei „59 Stellungen“ um temporäre Gebilde, die sich einem plastischen Prozess verdanken. Man erkennt, dass es den Körpern, die unter den Kleidungsstücken wie Gefangene wirken, schwer fällt, in der vorgegebenen Stellung zu verharren. Auf sie wird Zwang ausgeübt und gleichzeitig strahlen sie eine gewisse Komik aus. Trotz des hohen Abstraktionsgrades der skulpturalen Gebilde gelingt es den einzelnen Formen, im Betrachter eine endlose Kette von Assoziationen freizusetzen.
Wie es sich anfühlt, selbst zur Skulptur zu werden, könnt Ihr mit der simplen Zutat eines Kleidungsstücks im Städel Garten erfahren. Wurm hat auf dem grünen Hügel weiße runde Sockel verteilt, auf denen sich Zeichnungen befinden, die dem Besucher zeigen, wie er für eine Minute zur Skulptur wird. In „Doppel“ (1999/2014) schlüpft man mit einer zweiten Person unter einen einzelnen Pullover. Warum, so scheint Wurm mit seiner sozialen Plastik zu fragen, sollte man sich nicht häufiger seine Kleidung mit andern teilen? Zumindest ließe sich dadurch der Konsum der westlichen Welt ein wenig eindämmen. Humorvolle und politische Aussage vereinen sich bei Wurms Skulpturen häufig.
Dagegen benötigt man für „Hose lüften, Hände hoch“ (2014) eine extra Portion Mut und Gelenkigkeit. Denn wer stellt sich schon gern in Unterhose in einen Museumsgarten? Wurms Kleiderskulpturen, die den Besucher buchstäblich miteinbeziehen, weisen darauf hin, dass ein Kunstwerk immer wieder neu hervorgebracht werden muss. Ohne Rezipient auch kein Werk.
Steht bei Wurm das stoffliche Abstraktionsvermögen im Vordergrund, so haben sich noch andere Künstlerinnen und Künstler mit weiteren Bedeutungsschichten von Kleidung beschäftigt. Von Hans-Peter Feldmann (1941) stammt die Fotoserie „Alle Kleider einer Frau“ (1974), in der er 72 Kleidungsstücke in schwarz-weiß-Aufnahmen zeigt. Er nimmt so die Lesbarkeit einer Frauengarderobe ins Visier und formuliert Fragen wie: Welcher Frau gehören diese Sachen? Wie sieht sie aus, wo und wann trägt sie was und zu welchem Zweck? Rosemarie Trockel (1953) dagegen lässt Bilder und Objekte aus gestrickter Wolle herstellen. Zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit wird die soziale Zuordnung und emotionale Besetzung des Materials. Sie versieht die Werke mit Texten und Symbolen und lotet den Bereich des Weiblichen aus. Zuletzt seien noch die Kuscheltierriesen von Cosima von Bonin (*1962) erwähnt. Mit ihnen kreiert sie Bühnen und Szenen, die an weiträumige Kinderzimmer erinnern und sowohl Sehnsüchte wecken als auch Beklemmung auslösen können. War textile Kunst lange Zeit eher „Frauensache“, so gelingt es Wurm, dem Stoff als künstlerischem Ausdrucksmittel völlig neue Formen zu entlocken.
In den Gartenhallen des Städel befinden sich zwei frühe Textilobjekte Erwin Wurms. Das eine ist 1989 entstanden und sieht aus der Ferne wie ein dickes schwarzes Rohr aus. Beim Näherkommen wird dann zwar eine elegante Herrenhose mit weißen Streifen sichtbar, doch diese ist mit verzinktem Blech ausgefüllt und in die Vertikale versetzt worden. Dadurch erinnert sie an eine spagatartige Haltung, die zwar zum Nachahmen einlädt, aber doch für erhebliche Schmerzen sorgen dürfte. Ein weiteres Kleidungsstück für Herren hat Wurm an der gegenüberliegenden Wand zu einer minimalen Skulptur transformiert: Ein beiger Regenmantel umspannt ein Holzbrett und wirkt, als hätte Wurm den stets zerknitterten Mantel von Inspektor Columbo zur faltlosen Abstellfläche umfunktioniert. Auf der Unterseite sind sogar die Mantelknöpfe zu sehen sowie die vom Künstler verwendeten Klammern, die den Trenchcoat in einen rätselhaften Kasten verwandeln, der magisch von der Wand absteht.
Wurms Skulpturen setzen sich zusammen aus der direkten Verfügbarkeit gewöhnlicher Kleidungsstücke, die mit großer Präzision auf passend konstruierte stereometrische Körper aufgezogen werden. So erhalten sie zwar ein neues Volumen, bleiben jedoch an menschliche Maße gebunden. Wurm macht sich die Verformbarkeit der Mode zu eigen. Durch das Ablegen ihrer ursprünglichen Funktion werden die Textilien zu etwas, das in keine Schublade mehr passen will. Sie sind die Verbindung aus abstrakter Form und alltäglicher Bekleidung. Die Kraft der Werke liegt zwischen Aura und Gebrauchswert. Beide Bereiche schließen sich nicht aus, sondern sind im Sinne eines Sowohl-Als-Auch begreifbar. Dem Bildhauer Wurm geht es in seiner Kunst immer wieder um Leere und Volumen sowie die stetige Variation derselben. Mittlerweile hat er sogar die Leinwand, die ihn bereits vor seinem Bildhauer-Studium gereizt hat, in sein Schaffen mit Textilien integriert. Monochrome Farbflächen werden mit Ärmel, Halsausschnitt und Kragen versehen und weisen sowohl abstrakte als auch figürliche Merkmale auf. Wurm hat nicht nur Modedesigner inspiriert und Musikgruppen zu Höchstleistungen angespornt, sondern auch unterschiedliche Medien durch seine textilen Arbeiten miteinander verwoben.
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