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Wie viel Vergangenheit steckt in einer Minute?

Die Ausstellung „Erwin Wurm: One Minute Sculptures“ beginnt schon, bevor der Besucher überhaupt das Museumsgebäude betritt. Denn die Arbeit „Einmal Hund sein“ fordert direkt vor dem Haupteingang des Städel dazu auf, auf einem Sockel wie ein Hund auf allen vieren zu knien und sich anzuleinen. Damit verweist Erwin Wurm auf eine inzwischen 40 Jahre alte Kunstaktion des Künstlerpaars Valie EXPORT und Peter Weibel. Was es damit auf sich hatte und was die Arbeiten verbindet, erfahrt Ihr im Städel Blog.

Viktoria Draganova — 13. Juni 2014
Die „One Minute Sculpture“ von Erwin Wurm „Einmal Hund sein“ ist direkt vor dem Haupteingang des Städel Museums platziert. Foto: Katrin Binner

Die „One Minute Sculpture“ von Erwin Wurm „Einmal Hund sein“ ist direkt vor dem Haupteingang des Städel Museums platziert. Foto: Katrin Binner

Der Geschichte verschrieben

Im Februar 1968 führte die Künstlerin Valie EXPORT (1940 in Linz, Österreich) ihren Partner Peter Weibel (1944 in Odessa, Ukraine) an einer Hundeleine zunächst zu einer Vernissage in der Wiener Galerie St. Stephan, eine Woche später auch über die Kärntnerstraße. Ganz gewöhnlich angezogen und ohne gestische Übersteigerungen führte das Künstlerpaar seine Aktion „Aus der Mappe der Hundigkeit“ vor den Augen des empörten Wiener Bürgertums aus. Ihre Arbeiten auf dem Feld der Aktionskunst stellte die Frage nach dem Ineinandergreifen von Leben und Kunst, und dies in ähnlich provokanter Weise wie auch andere Vertreter des Wiener Aktionismus zu dieser Zeit.  Künstler wie Günter Brus (1938 in Ardning, Österreich) und Rudolf Schwarzkogler (1940 in Wien, Österreich) thematisierten in den 1960er Jahre in radikaler, nonkonformer und aggressiver Weise Körper, Teilhabe und Materialwirkung – dies taten sie unter anderem mit „Materialaktionen“ mit Tierkadavern, Ausscheidungsstoffen und Schlamm – und griffen die aus ihrer Sicht elitäre und utopisch leere konstruktivistische Abstraktion in der Malerei an. EXPORT und Weibel als Nachfolger der ersten Generation des Wiener Aktionismus wendeten sich hingegen geschlechtsspezifischen Repräsentationen zu, außerdem unterzogen sie die Gegensätze von öffentlichem, privatem und musealem Raum einer Umdeutung.

Versprechen nach Authentizität

2014, vier Jahrzehnte später, ist im Rahmen der Ausstellung „Erwin Wurm: One Minute Sculpture“ direkt vor dem Eingang des Städel Museums ein Podest mit einer Hundeleine zu finden. Die Arbeit mit dem Namen „Einmal Hund sein“ von Erwin Wurm ist ein Verweis auf die Kunstaktion von EXPORT und Weibel ebenso wie auf die komplexe Geschichte der Performativität in der österreichischen Kunst, in dessen Nachfolge seine Arbeiten auch gedeutet werden. Doch es fehlt etwas Wesentliches: Der Künstlerkörper. Dies irritiert, weil Valie EXPORT gerade ihren Körper zum Ort des Diskurses über Geschlechteridentitäten gemacht hatte. Die drängende Frage, die sich in ihren künstlerischen Selbstdarstellungs- und -erkundungsformen stellte, ist die nach dem Ich. So ließ sich EXPORT in „Body Sign Action“ (1970) ein Strumpfband auf den Oberschenkel tätowieren, bei der „Tapp- und Tastkino“-Aktion (1968) ließ sie Straßenpassanten durch einen an die Brust angelegten Kasten ihre Brüste betasten. In dieser Unmittelbarkeit wurde das avantgardistische Versprechen nach Authentizität eingelöst.

Wien im Februar 1968: Das Künstlerpaar Peter Weibel und Valie Export bei Ausführung der Aktion „Aus der Mappe der Hundigkeit“.

Wien im Februar 1968: Das Künstlerpaar Peter Weibel und Valie Export bei Ausführung der Aktion „Aus der Mappe der Hundigkeit“.

Destillat „One Minute Sculpture“

Wie in vielen seiner Arbeiten problematisiert Erwin Wurm bei der „One Minute Sculpture“ „Einmal Hund sein“ die Abwesenheit. Anders als bei den „Staubskulpturen(1990-1993) geht es hier jedoch nicht um die Absenz eines vormals vorhandenen Objekts, sondern um die eines Subjekts – den Körper. Vor allem wirkt diese „One Minute Sculpture“ wie ein Destillat. Nichts ist von den schmutzigen Händen und Knien des krabbelnden Künstlers oder von den empörten Blicken erhalten geblieben. Der künstlerische Angriff ist im präsentierten Material erloschen – selbst die Hundeleine hätte eine Reliquie der ausgeführten Performance sein können, ist aber wie häufig in den Arbeiten Wurms kein aufgeladener Gegenstand, sondern wird nach Ende der Ausstellung ganz profan entsorgt.

Die Aktualität der Geste

Bei ephemeren Kunstformen stellt sich die Frage danach, ob und wie sie festgehalten werden können, denn die Performance beansprucht für sich einen Zugriff auf das Reale zu liefern. „Einmal Hund sein“ thematisiert die Wiederaufführbarkeit, indem sich die Skulptur nicht  allein in einer symbolischen Geste erschöpft, sondern durch die Aufforderung an den Besucher, selbst auf ein weißes Podest zu knien und die Hundeleine anzulegen, neue Performativität erweckt. Im Vergleich mit den anderen für das Städel Museum geschaffenen „One Minute Sculptures“ ist hier das Spiel mit moralischen Kategorien deutlicher, auch wenn diese letztlich unaufgelöst bleiben. Wurms Arbeit sucht nicht den Widerstand der Gesellschaft, sie ist vielmehr von der Selbstverständlichkeit der individuellen Geste gezeichnet. Erst durch den aktiven Besucher wird sie zum „Reenachtment“  der in der Vergangenheit liegenden Aktion, als Vergegenwärtigung realisiert sich „Einmal Hund sein“ innerhalb dieser zeitlichen, kontextuellen und subjektiven Verschiebung.

Kritische Hinterfragung von Kunstpolitiken: Oleg Kulik, The Mad Dog Performance, 1994

Kritische Hinterfragung von Kunstpolitiken: Oleg Kulik, The Mad Dog Performance, 1994.

Hinterfragung von Kunstpolitiken

Ähnlich wie die Aktion von EXPORT und Weibel, verlässt diese „One Minute Sculpture“ das Museum, doch bleibt sie in dessen Nähe. Mitte der 1990er Jahre trat der ukrainische Aktionskünstler Oleg Kulik (*1961 in Kiew) nackt als Hund vor dem Eingang von Färgfabriken in Stockholm auf. Grund der Aktion war die umstrittene Ausstellung „Interpol“, die den Dialog zwischen Künstlern aus dem Osten und dem Westen herstellen sollte. Obgleich genau so animalistisch wie Weibel, wirkte der bellende und beißende Künstler weitaus provokanter in seinem Exhibitionismus und aggressivem Verhalten und damit weniger emanzipatorisch. Kuliks Aktion rief vorhersehbare Empörung hervor, wurde aber auch als die Weigerung eines osteuropäischen Künstlers verstanden, bestimmte Erwartungen an repräsentativem Handeln zu erfüllen. Letztlich ist dies die kritische Hinterfragung des Ausstellungshauses als Terrain von widerstrebenden Kunstpolitiken, die auch hier vor dem Museum einen Platz nimmt.


Die Autorin Viktoria Draganova war Projektleiterin der Neurepräsentation der „Skulptur im Städel Garten“. Derzeit lässt sie sich von Künstlern, Kuratoren und Autoren inspirieren und bereitet die Eröffnung eines neuen Kunstraums in Sofia vor.

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