Navigation menu

Von Projektions­flächen und Bühnen

Auf den Sockeln, die die Welt bedeuten, sehen wir in Museen – still – Plastiken und Skulpturen aus Marmor, Stein und Bronze, an denen wir vorübergehen. Empor gehoben aus dem Raum, in dem sich der Museumsbesucher befindet, von Künstlern, Bildhauern und Kuratoren. Normalerweise. Anders ist es bei den „One Minute Sculptures“ von Erwin Wurm, dort sind die Sockel zunächst einmal leer. In diesem Blogbeitrag erfahrt Ihr welche Funktionen der Sockel im Museum noch einnehmen kann.

Jannikhe Möller — 8. Juli 2014

Die Funktion des Sockels anders verstanden: Das Werk "Organisation von Liebe" (2014) von Erwin Wurm in der Ausstellung "Erwin Wurm: One Minute Sculptures" im Städel. © Studio Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2014; Foto: Norbert Miguletz

Nichts als ein Display

Schon in der römischen und griechischen Antike stand die Skulptur auf dem Sockel. Dort diente der Sockel der Skulptur. Er erhöhte sie, machte sie unübersehbar. In dieser Funktion ist der Sockel, wie der Bilderrahmen letztlich auch, kein eigenständiges Objekt. Vielmehr schafft er einen Ort, der Betrachter und Kunstwerk voneinander trennt. Wie aber konnte es nun zu dem leeren weißen Sockel von Erwin Wurm kommen? Dazu bedurfte es einiger Vordenker, die die Funktion des Sockels anders verstanden und den traditionellen Skulpturbegriff erweiterten.

Der Sockel, ein Kunstwerk?

Der Bildhauer Constantin Brancusi (1876–1957) entdeckt, als vielleicht einer der Ersten, die bildhauerische Qualität des Sockels selbst und beginnt sich Gedanken über dessen Gestalt in Relation zur Skulptur zu machen. Anschaulich wird dies etwa in seiner Arbeit „La sorcière“ (1916–1924), die heute in der Sammlung des Guggenheim Museums  zu finden ist. Eine abstrakte Form, bei dem die Grenze zwischen Sockel und Kunstwerk kaum auszumachen ist. Man könnte sagen: Der Sockel wird eins mit dem Kunstwerk. Dadurch erstreckt sich letztlich das Kunstwerk bis auf den Boden – auf dem der Betrachter steht.

Der Sockel macht das Kunstwerk: die Arbeit des italienischen Künstlers Piero Manzoni (1933‒1963) „Base Magica“ (1961), die 2013 in einer Ausstellung im Städel zu sehen war. © Fondazione Piero Manzoni, Milano, by VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Die Begegnung von Kunstwerk und Betrachter

Die Konzeptkünstler und Minimalisten der 1960er Jahre, wie Franz Erhard Walther (1939) oder Carl Andre (1935), verabschieden sich gänzlich von der Funktion des Sockels als Objekt zur Abgrenzung von Kunstwerk und Betrachter. Ihre Arbeiten etablieren stattdessen einen gemeinsamen Raum für Betrachter und Kunstwerk. Sowohl Franz Erhard Walthers „Schreit- und Standstücke“ (ab 1973) oder Carl Andres „Roads“ (ab Mitte der 1960er Jahre) können vom Betrachter betreten werden. Sie bilden in der Nutzung durch die Betrachter eine Einheit und dieser wird in die räumliche Ordnung integriert. Der italienische Künstler Piero Manzoni (1933‒1963) geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass er die Betrachter mit seiner Arbeit „Base Magica“ (1961) einlädt, sich auf den Sockel zu stellen. Er erklärt die Betrachter auf dem Sockel sogar zum Kunstwerk.

Leergefegt

Hieran knüpft Erwin Wurm (*1954) an. Auf den weißen Sockeln, die er im Städel Museum platziert hat, kann lange nach Skulpturen aus Marmor, Stein oder Bronze gesucht werden. Man findet stattdessen: gezeichnete und handgeschriebene Handlungsanweisungen, den einen oder anderen Tennisball, WC-Reiniger und Museumsbesucher.

"Hose lüften und überm Kopf Hände hoch": die gezeichneten Handlungsanweisungen von Erwin Wurm auf den weißen Sockel eröffnen einen Projektionsraum. © Studio Wurm / VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Lampenfieber auf dem Display

Die gezeichneten Handlungsanweisungen und die Gegenstände auf dem weißen Sockel eröffnen einen Projektionsraum, in dem sich der Betrachter vorstellen kann, wie er beim Ausführen der Handlung auf dem Sockel aussehen könnte. Welche Unterwäsche trage ich heute? Schon in diesem Moment der Vorstellung entsteht eine Skulptur, und zwar im Kopf. Überwindet sich nun der Betrachter und kommt der Aufforderung des Künstlers nach, das heißt er stellt sich auf den Sockel, folgt den Handlungsanweisungen und lüftet zum Beispiel seine Hose über dem Kopf, wie es die Arbeit „Hose lüften, Hände hoch“ (2014) vorgibt, so wird der Sockel sehr viel mehr als eine Projektionsfläche. Erwin Wurm denkt zwar den Sockel als Display, als Träger, jedoch als ein Träger für den Betrachter. Der Sockel wird zur Bühne, zum Ort, auf dem sich eine Handlung vollzieht. Sockel, Handlungsanweisung, Requisiten und Betrachter gehen eine performative Koalition ein. Der aktivierte Rezipient wird für eine kurze Dauer selbst zum Kunstwerk, zur Skulptur – in diesem Fall ein Mensch mit Hose auf dem Kopf.


Jannikhe Möller arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung. Auf den Sockel gekommen ist sie seit ihrer mündlichen Diplomabschlussprüfung, wo sie dieses Thema eingehend behandelte.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Zu klein für Erwin Wurm? Michelle zeigt vollen Körpereinsatz!
    Besucherstimmen zu den „One Minute Sculptures“

    Ein bisschen verrückt ist das schon!

    Jeder Museumsbesucher ist anders: Er bringt verschiedene Vorkenntnisse und Lebenserfahrung mit, hat individuelle Wünsche und Erwartungen an die Kunst. Was passiert wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf die Kunst von Erwin Wurm treffen? Ein Erfahrungsbericht nach neun Wochen „Erwin Wurm: One Minute Sculptures“.

  • Erwin Wurms Textilobjekte

    Wenn Kleider Kunst machen

    Spätestens seit Gottfried Kellers Novelle (1874) weiß man, dass Kleider Leute machen. Aber was machen Kleider, wenn sie im Museum als Kunst ausgestellt werden? Die bildhauerischen Möglichkeiten von Textilien sind immens. Vor allem, wenn man Kleidung auf spielerische Art ihrer normativen Funktion enthebt und sie dadurch an die Grenzen ihrer Dehnbarkeit führt. Welche Rolle Kleidung oder vielmehr Textilien allgemein in der zeitgenössischen Kunst einnehmen können, wird in der aktuellen Ausstellung Erwin Wurms im Städel Museum deutlich.

  • Die „One Minute Sculpture“ von Erwin Wurm „Einmal Hund sein“ ist direkt vor dem Haupteingang des Städel Museums platziert. Foto: Katrin Binner
    Erwin Wurm und der Wiener Aktionismus

    Wie viel Vergangenheit steckt in einer Minute?

    Die Ausstellung „Erwin Wurm: One Minute Sculptures“ beginnt schon, bevor der Besucher überhaupt das Museumsgebäude betritt. Denn die Arbeit „Einmal Hund sein“ fordert direkt vor dem Haupteingang des Städel dazu auf, auf einem Sockel wie ein Hund auf allen vieren zu knien und sich anzuleinen. Damit verweist Erwin Wurm auf eine inzwischen 40 Jahre alte Kunstaktion des Künstlerpaars Valie EXPORT und Peter Weibel. Was es damit auf sich hatte und was die Arbeiten verbindet, erfahrt Ihr im Städel Blog.

  • „One Minute Sculptures“

    Das Leben als Kunstwerk

    Wenn die Kunst lebendig wird oder Lebendiges zum Kunstwerk erstarrt, ist eine magische Kraft, die Göttin Venus oder aber Erwin Wurm am Werk. Mit seinen lebenden „One Minute Sculptures“ schließt Wurm 1997 an einen radikal erweiterten Kunstbegriff an: der Künstler bestimmt, wer oder was ein Kunstwerk ist.

  • Helmut Friedel

    Zum Skulptur­begriff bei Erwin Wurm

    Die Kuratoren der Ausstellung „Erwin Wurm: One Minute Sculptures“ haben für Euch die besten Texte, die zum Werk des österreichischen Künstlers erschienen sind, ausgewählt. In den nächsten Wochen werden wir hier einige davon in gekürzter Fassung wiederveröffentlichen. Der erste Beitrag ist von Helmut Friedel. Der deutsche Kunsthistoriker (*1946 in München), von 1990 bis 2013 Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München, hat zahlreiche Ausstellungen kuratiert und war an mehr als 230 Publikationen als Herausgeber und/oder Autor beteiligt.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Städel | Frauen

    Marie Held: Kunsthändlerin!

    Teil 5 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • Fantasie & Leidenschaft

    Eine Spurensuche

    Bei der Untersuchung von über 100 italienischen Barockzeichnungen kamen in der Graphischen Sammlung bislang verborgene Details ans Licht.

  • Städel Mixtape

    Kann man Kunst hören?

    Musikjournalistin und Moderatorin Liz Remter spricht über Ihre Arbeit und den Entstehungsprozess des Podcasts.

  • Städel | Frauen

    Künstlerinnen-Netzwerke in der Moderne

    Kuratorin Eva-Maria Höllerer verdeutlicht, wie wichtig Netzwerke für die Lebens- und Karrierewege von Künstlerinnen um 1900 waren und beleuchtet deren Unterstützungsgemeinschaften.

  • Muntean/Rosenblum

    Nicht-Orte

    Anonyme Räume, flüchtige Begegnungen: Kuratorin Svenja Grosser erklärt, was es mit Nicht-Orten auf sich hat.

  • Städel Mixtape

    #42 Albrecht Dürer - Rhinocerus (Das Rhinozeros), 1515

    Ein Kunstwerk – ein Soundtrack: Der Podcast von Städel Museum und ByteFM.

  • Alte Meister

    Sammler, Stifter, Vorbild

    Sammlungsleiter Bastian Eclercy und Jochen Sander im Interview zum neuen Stifter-Saal.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Städel Dach

    Hoch hinaus

    Die Architekten Michael Schumacher und Kai Otto sprechen über Konzept, Inspirationen und die Bedeutung des Städel Dachs für Besucher und die Stadt.

  • Gastkommentar

    Kunst und die innere Uhr mit Chronobiologe Manuel Spitschan

    Was sieht ein Chronobiologe in den Werken der Städel Sammlung?

  • Städel Digital

    Städel Universe: Von der Idee zum Game

    Im Interview gibt Antje Lindner aus dem Projektteam Einblicke in die Entstehung der hybriden Anwendung.

  • Engagement

    Die „Causa Städel“

    Was an Städels letztem Willen so besonders war und worauf man heute achten sollte, wenn man gemeinnützig vererben möchte.