Auf den Sockeln, die die Welt bedeuten, sehen wir in Museen – still – Plastiken und Skulpturen aus Marmor, Stein und Bronze, an denen wir vorübergehen. Empor gehoben aus dem Raum, in dem sich der Museumsbesucher befindet, von Künstlern, Bildhauern und Kuratoren. Normalerweise. Anders ist es bei den „One Minute Sculptures“ von Erwin Wurm, dort sind die Sockel zunächst einmal leer. In diesem Blogbeitrag erfahrt Ihr welche Funktionen der Sockel im Museum noch einnehmen kann.
Schon in der römischen und griechischen Antike stand die Skulptur auf dem Sockel. Dort diente der Sockel der Skulptur. Er erhöhte sie, machte sie unübersehbar. In dieser Funktion ist der Sockel, wie der Bilderrahmen letztlich auch, kein eigenständiges Objekt. Vielmehr schafft er einen Ort, der Betrachter und Kunstwerk voneinander trennt. Wie aber konnte es nun zu dem leeren weißen Sockel von Erwin Wurm kommen? Dazu bedurfte es einiger Vordenker, die die Funktion des Sockels anders verstanden und den traditionellen Skulpturbegriff erweiterten.
Der Bildhauer Constantin Brancusi (1876–1957) entdeckt, als vielleicht einer der Ersten, die bildhauerische Qualität des Sockels selbst und beginnt sich Gedanken über dessen Gestalt in Relation zur Skulptur zu machen. Anschaulich wird dies etwa in seiner Arbeit „La sorcière“ (1916–1924), die heute in der Sammlung des Guggenheim Museums zu finden ist. Eine abstrakte Form, bei dem die Grenze zwischen Sockel und Kunstwerk kaum auszumachen ist. Man könnte sagen: Der Sockel wird eins mit dem Kunstwerk. Dadurch erstreckt sich letztlich das Kunstwerk bis auf den Boden – auf dem der Betrachter steht.
Die Konzeptkünstler und Minimalisten der 1960er Jahre, wie Franz Erhard Walther (1939) oder Carl Andre (1935), verabschieden sich gänzlich von der Funktion des Sockels als Objekt zur Abgrenzung von Kunstwerk und Betrachter. Ihre Arbeiten etablieren stattdessen einen gemeinsamen Raum für Betrachter und Kunstwerk. Sowohl Franz Erhard Walthers „Schreit- und Standstücke“ (ab 1973) oder Carl Andres „Roads“ (ab Mitte der 1960er Jahre) können vom Betrachter betreten werden. Sie bilden in der Nutzung durch die Betrachter eine Einheit und dieser wird in die räumliche Ordnung integriert. Der italienische Künstler Piero Manzoni (1933‒1963) geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass er die Betrachter mit seiner Arbeit „Base Magica“ (1961) einlädt, sich auf den Sockel zu stellen. Er erklärt die Betrachter auf dem Sockel sogar zum Kunstwerk.
Hieran knüpft Erwin Wurm (*1954) an. Auf den weißen Sockeln, die er im Städel Museum platziert hat, kann lange nach Skulpturen aus Marmor, Stein oder Bronze gesucht werden. Man findet stattdessen: gezeichnete und handgeschriebene Handlungsanweisungen, den einen oder anderen Tennisball, WC-Reiniger und Museumsbesucher.
Die gezeichneten Handlungsanweisungen und die Gegenstände auf dem weißen Sockel eröffnen einen Projektionsraum, in dem sich der Betrachter vorstellen kann, wie er beim Ausführen der Handlung auf dem Sockel aussehen könnte. Welche Unterwäsche trage ich heute? Schon in diesem Moment der Vorstellung entsteht eine Skulptur, und zwar im Kopf. Überwindet sich nun der Betrachter und kommt der Aufforderung des Künstlers nach, das heißt er stellt sich auf den Sockel, folgt den Handlungsanweisungen und lüftet zum Beispiel seine Hose über dem Kopf, wie es die Arbeit „Hose lüften, Hände hoch“ (2014) vorgibt, so wird der Sockel sehr viel mehr als eine Projektionsfläche. Erwin Wurm denkt zwar den Sockel als Display, als Träger, jedoch als ein Träger für den Betrachter. Der Sockel wird zur Bühne, zum Ort, auf dem sich eine Handlung vollzieht. Sockel, Handlungsanweisung, Requisiten und Betrachter gehen eine performative Koalition ein. Der aktivierte Rezipient wird für eine kurze Dauer selbst zum Kunstwerk, zur Skulptur – in diesem Fall ein Mensch mit Hose auf dem Kopf.
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