Bei den Alten Meistern denkt man an Einmaligkeit und Originalität. Der Barockmaler Sassoferrato aber schuf ein Madonnenbild nach dem anderen. Alles nur Copy & Paste? Sammlungsleiter Bastian Eclercy ermittelt.
In der ersten Reihe stand er nie. Kein Literat seiner Zeit hat den in Rom tätigen Maler Giovanni Battista Salvi (1609-1685), den man nach seinem bei Ancona gelegenen Geburtsort Sassoferrato nennt, mit einer Lebensbeschreibung gewürdigt. Auch die moderne Kunstgeschichte ließ ihn lange links liegen, belächelte ihn als süßlich frömmelnden Kleinmeister. So wissen wir sehr wenig über seine Biografie. Und doch steht uns Sassoferrato in seinen Werken überraschend prägnant vor Augen. Denn kaum ein anderer Maler hielt über seine gesamte Schaffenszeit so konsequent an einem signature style fest: einer wiedererkennbaren Markenästhetik von bemerkenswerter Klarheit und Radikalität.
Dazu gehört Sassoferratos starke Fokussierung auf ein Bildthema, das ihm den Beinamen pictor virginum, der Madonnenmaler, eintrug. Das Städel Museum besitzt von seiner Hand glücklicherweise gleich zwei recht unterschiedliche Varianten dieses Genres, die bis vor kurzem beide im Depot schlummerten, nun aber nach Restaurierungen in neuem Glanz erstrahlen. So zog vor zwei Jahren zunächst das Gemälde Maria, das Kind anbetend erstmals in die Sammlungspräsentation des Städel ein. Jetzt hat es sinnfällige Gesellschaft in Gestalt des zweiten Marienbildes von Sassoferrato bekommen, das – sobald die Museen wieder öffnen können – im großen Italiener-Saal zu sehen ist; die beiden Sassoferratos sind dabei mit Guercinos Madonna mit Kind und Murillos Gutem Hirten gruppiert.
Die Reinigung und Retusche des Gemäldes – durchgeführt von unserer Restauratorin Lilly Becker unter Betreuung von Stephan Knobloch – hatte eine eindrucksvolle Transformation zur Folge: Unter dem gelblich-bräunlichen Schleier des alten Firnisses, der das Bild entstellt und ihm sogar eine Klassifizierung als Kopie (?) eingebracht hatte, kamen das porzellanhaft feine Inkarnat, der subtil aufleuchtende Heiligenschein und der für den Maler charakteristische Dreiklang von Königsblau, Beerenrot und Cremeweiß zum Vorschein.
Gefasst in einen „neuen“, das heißt alten italienischen Rahmen des 17. Jahrhunderts kann das Gemälde nun an dem Ort strahlen, wo es schon einmal hing: 1866 für das Städel erworben, ist es erstmals 1878 in den Italiener-Sälen des gerade eröffneten Neubaus am Schaumainkai bezeugt – übrigens als Pendant zu Mantegna, wie diese Zeitreise anschaulich macht. Nach vielen Jahrzehnten im Depot durfte Sassoferratos Maria mit dem sehnsuchtsvollen Blick gen Himmel in wiedergewonnener Farbenpracht endlich in die Galerie zurückkehren.
Unsere landläufige Vorstellung von künstlerischer Produktion bei den Alten Meistern impliziert Einmaligkeit und Originalität. Dass sich dies in der frühneuzeitlichen Malerei durchaus nicht immer so verhielt, dafür gibt unser Sassoferrato geradezu ein Lehrbeispiel ab. Und zwar dann, wenn man sich auf die ebenso komplexe wie spannende Suche nach Werken begibt, die mit dem Städel Bild in Beziehung stehen. Ein Puzzlespiel beginnt: Zunächst einmal stellt man fest, dass von dieser Komposition diverse Fassungen existieren. Hier habe ich die mir bislang bekannt gewordenen Beispiele aus Museen in Karlsruhe, Bergamo und Baltimore sowie zwei Auktionshäusern zusammengestellt:
All diese Varianten weisen nur geringfügige motivische Abweichungen auf. In der Ausführungsqualität sind durchaus Unterschiede zu verzeichnen, die allerdings erst einer genaueren Inaugenscheinnahme der Originale bedürften. Überraschend ist das nicht: Von den meisten Kompositionen Sassoferratos haben sich mehrere, manchmal Dutzende Fassungen erhalten. Einige davon sind leicht als Kopien von anderer Hand zu erkennen. Doch viele lassen durch ihre gleichbleibend hohe malerische Qualität darauf schließen, dass Sassoferrato selbst seine erfolgreichen Bilder mehrfach gemalt hat. Jede Suche nach einem ersten „Original“ wäre dabei sinnlos. Die Replik stellt hier gerade keine minderwertige Vervielfältigung dar, sondern sein künstlerisches Prinzip.
Angesichts dieser zahlreichen Versionen mag man Sassoferratos „Copyright“ für die offenkundig bei Sammlern beliebte Bilderfindung als selbstverständlich voraussetzen. Aber auch das ist ein Trugschluss, wie ein Kupferstich von François de Poilly belegt – eine Reproduktionsgrafik nach einem Gemälde, die wie üblich in einer Inschrift den Maler der Vorlage ausweist: „Guid[o]. Ren[i]. Bon[oniensis]. Pin[xit].“ Nicht Sassoferrato also, sondern Guido Reni, der ungleich berühmtere Malerstar aus Bologna, steckt dahinter. Auf den zweiten Blick wird man dann auch verschiedener kleiner Abweichungen gegenüber Sassoferratos Komposition gewahr; so ist etwa der Blick gen Himmel mittig und nicht nach links ausgerichtet, der Kopfschleier von geringerem Volumen, der Mantel nicht waagerecht über beide Arme gelegt etc.
Die Reni-Forschung hat das im Stich bezeugte Werk versuchsweise mit einem Gemälde im Kunsthandel identifiziert, dessen Status (eigenhändig oder Kopie?) unklar bleibt. Deutlich wird aber in jedem Falle, dass Sassoferrato hier eine Bilderfindung Guido Renis übernommen und modifiziert hat.
Doch auch Renis besagte Invention lässt sich noch einen Schritt weiter zurückverfolgen, und zwar in seinem eigenen Œuvre. Sie basiert nämlich auf einem großformatigen Altarbild der Immaculata Conceptio (Unbefleckte Empfängnis), das heute im Metropolitan Museum in New York aufbewahrt wird. Für sein kleines Marienbild hat Reni demnach die obere Hälfte der Hauptfigur aus dem Altarbild isoliert und dabei einige Details der Draperie verändert.
Sassoferrato wiederum – wir kommen zum vorletzten Puzzlestück – kannte auch diese Komposition Renis und variierte sie mit stärkeren Abweichungen in einer ebenfalls ganzfigurigen Immaculata Conceptio, geschaffen in den 1630er Jahren für San Pietro in Perugia und nun im Louvre. Das Ende unserer tour de force durch die Marienbilder markiert schließlich eine in zwei Fassungen (Turin und Boston) überlieferte Mischform, bei der Sassoferrato eine halbfigurige Maria „Frankfurter Art“ mit Engelsköpfen in Gewölk aus der ganzfigurigen Version kombiniert hat.
Aus diesem wahrlich komplizierten Puzzle, das wir Stück für Stück komplettiert haben, ergeben sich drei interessante Schlussfolgerungen:
Erstens: Aufgrund der Zusammenhänge mit den anderen Versionen können wir nun präziser bestimmen, was im Städel Bild eigentlich dargestellt ist. Die Halbfigur mit den zum Gebet gefalteten Händen und dem Blick zum Himmel, jedoch ohne Kind, ist eine verkürzte Version einer Maria Immaculata, also einer Maria der Unbefleckten Empfängnis, die in der theologischen Diskussion wie in der Malerei oft mit der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verschränkt wurde.
Zweitens: Wir haben herausgefunden, dass Sassoferratos Gemälde eine Bilderfindung des schon zu Lebzeiten legendären Guido Reni zugrunde liegt, die der Maler aber motivisch wie stilistisch verändert hat.
Drittens: Wir verstehen nun einen wesentlichen Aspekt der Arbeitsweise Sassoferratos, der nach dem Prinzip des „Copy & Paste“ auf Kompositionen von Vorbildern zurückgriff, diese modifizierte, Teile daraus isolierte oder in neuen Kontexten wieder zusammensetzte.
Vor allem aber lehrt uns das Beispiel, wie die Kunstgeschichte als Wissenschaft bisweilen mit kriminalistischen Methoden einzelne Beweisstücke identifiziert, ihrer Beziehung auf den Grund geht und dabei Zug um Zug die Puzzleteile zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammensetzt. Fall Sassoferrato vorerst abgeschlossen. Bis zum nächsten Beweisstück…
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