Die Verbindung von Kunst und Leben war ein zentraler Ansatz des Bauhauses – er prägte auch den jungen Vasarely. Aus seinem Versuch, die Gesellschaft mithilfe der Kunst zu demokratisieren, entstand schließlich: die Op-Art.
Wer in seiner Kindheit mit bunten Bauklötzen gespielt hat, wird sich eine Vorstellung von der cité polychrom machen können, die Victor Vasarely in seinem 1959 verfassten Manifest fantasiert. Es soll eine „vielfarbige, vielförmige, blühende Stadt“ werden, die zu „Gesundheit und Freude“ verhilft – eine Art Paukenschlag gegen die Tristesse der Großstädte, die sich in Europa noch immer nicht von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs erholt haben. Und niemand anderes als der Künstler selbst soll die bunte Neuordnung in die Hand nehmen.
Der Künstler als Visionär und sozialer Revolutionär, hat er sich zu viel vorgenommen? Es geht hier schließlich um die Neugestaltung der ganzen Stadt. Doch gerade diese Tendenz zum Unmöglichen scheint die treibende Kraft Victor Vasarelys zu sein. Auch wenn er seinen Traum einer Farbstadt nie in die Praxis umsetzen konnte, sein künstlerisches Credo blieb: die Demokratisierung der Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst, der Technik und der Wissenschaft.
Der Ausgangspunkt von Vasarelys utopischen Überlegungen war die Verortung des Menschen und der Natur als Teile eines „großen Ganzen“: das Universum. Was kein Zufall ist, bedenkt man, dass der Weltraum ab den 1950er-Jahren zum Ort eines globalen Wettlaufs wurde. Als Konsequenz schlug Vasarely in seinen Arbeiten häufig eine Brücke zur Kosmologie als Form der Welterklärung, wie die Titelgebung einiger seiner Werke bezeugt. Er folgt somit einem Verständnis, wonach sich der Mensch in verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen bewegt.
Frühe Arbeiten wie Étude homme en mouvement illustrieren die Gedankenwelt Vasarelys: Anonyme, menschliche Figuren, die aussehen wie Schneiderpuppen, laufen in einem undefinierten Raum auf uns zu. Das Gemälde scheint in seiner Bewegtheit fast futuristisch. Bewegung (frz. „le mouvement“) in Verbindung mit Räumlichkeit scheint in Vasarelys Schaffen demnach schon früh Programm gewesen zu sein. Und sie taucht als Thema immer wieder auf, auch im Jahr 1955, in dem er eine Gruppenausstellung in der Pariser Galerie Denise René genauso betitelte.
„Die Leinwand ist Fläche, aber auch Raum, weil sie Bewegung ermöglicht. Sie hat demnach nicht zwei, sondern vier Dimensionen“ – seine Visionen von Raum und Fläche und die Interaktion des Menschen und der Natur darin überträgt Vasarely in seine Malereien, vor allem ab den 1960er-Jahren: In seinen illusionistischen Op-Art-Gemälden schieben sich jetzt Halbkreise und Würfel aus der zweidimensionalen Fläche schreiend bunt in den Betrachterraum – ganz so als ob seine geforderte cité polychrom aus der Leinwand herausplatzen würde.
Die von Vasarely genutzten geometrisch-abstrakten Ausdrucksformen wurden bereits zuvor im Suprematismus, bei De Stijl oder den am Bauhaus lehrenden Konstruktivisten erprobt und als eine moderne visuelle Sprache und Kultur ins Alltags- und Wirtschaftsleben integriert. Vasarely steht demnach in direkter Nachfolge von Künstlern wie Kasimir Malewitsch (man denke nur an seine Hommage à Malevich), dem russischen ‚Erfinder’ der gegenstandlosen Kunst.
Diese Künstler der Vorkriegsavantgarde hatten sich die Frage gestellt, wo und ob es überhaupt die Grenze der Leinwand gibt – und ob man mithilfe von Grundformen eine universalgültige Formsprache generieren kann. Es war die Zeit eines Umdenkens, der Verbindung von Kunst und Leben, von Kunst und Gesellschaft.
Insbesondere das Bauhaus bildete Künstler aus, die in ihrer späteren Tätigkeit dieses Vorhaben konkret einlösten: im Design, in der Werbung und der Architektur. Und auch Victor Vasarely – ausgebildet beim Bauhaus-Schüler Sandór Bortnyik – folgte in seiner künstlerischen Arbeit diesen avantgardistischen Ansätzen. Als ausgebildeter Werbegrafiker hatte er dazu das nötige gestalterische Vorwissen. So war er fasziniert von dem Gedanken einer Kodierung seiner Bildideen, die es einer computerisierten Maschine erlauben würde, anhand eines von ihm festgelegten Repertoires von Formen und Farben selbstständig neue Partituren zu kreieren. Es ist die grundlegende Abkehr vom Gedanken des genuinen „Künstler-Genies“.
Folglich ist es auch kein Zufall, wenn die optischen Illusionen Vasarelys im ersten Moment computergenerierten Ästhetiken gleichen. Der extrem dünne Farbauftrag und die kaum sichtbare Pinselführung de-personalisiert Vasarelys Malerei, sodass sie kaum noch als „klassische“ Malerei erkennbar ist. Vasarelys Malerei ist eine universelle Lesbarkeit zu eigen: Das Spiel mit der optischen Wahrnehmung, die Botschaft der Werke, erschließt sich ohne Vorkenntnisse.
So bleibt zwar die Umsetzung von Vasarelys cité polychrom reine Theorie, ihm gelang aber eine Öffnung seines Kunstbegriffs über den Elfenbeinturm hinaus in bis dahin kunstferne Sphären unserer Gesellschaft. Das beweisen nicht zuletzt die Plattencover, Geschirrservices und Poster mit Vasarely-Motiven, die die 60er- und 70er-Jahre prägten, vor allem aber seine Verankerung im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation.
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