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Nicht-Orte

Anonyme Räume, flüchtige Begegnungen: Das österreichische Künstlerduo Muntean/Rosenblum nutzt sogenannte Nicht-Orte wie Flughäfen, Einkaufszentren oder Hotelzimmer als Schauplätze ihrer Werke. Während Kuratorin Svenja Grosser beleuchtet, was es damit auf sich hat, fängt die Fotografin Esra Klein deren besondere Atmosphäre ein.

Svenja Grosser — 29. August 2024

Fotografien: Städel Museum – Esra Klein

Identitätslos

Ein Hotelzimmer, das Gate eines Flughafens oder ein Einkaufszentrum sind für viele Menschen vertraute Orte. Auf den ersten Blick haben sie nicht viel miteinander gemeinsam, und doch lassen sie sich alle unter einem Begriff zusammenfassen: Nicht-Orte.

Nach dem französischen Anthropologen Marc Augé, der den Begriff in den 1990er-Jahren geprägt hat, zeichnet sich ein Nicht-Ort insbesondere durch den Mangel an einer eigenen Identität aus.

Denken wir zum Beispiel an ein typisches Hotelzimmer, so lässt sich allein durch den Blick in den Raum nicht sagen, in welcher Stadt, in welchem Land oder gar auf welchem Kontinent es sich befindet. Gleiches gilt für den Wartebereich eines Flughafens oder die Passage eines Einkaufszentrums, in der sich Laden an Laden reiht. Nicht-Orte zeichnen sich auch dadurch aus, dass wir sie (be)nutzen, beispielsweise als Hotelgast, Passagier oder Kunde. Diese Orte sind auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten und ähneln sich daher in ihrer bewährten Aufmachung über Ländergrenzen hinaus.

In der Schwebe

Das österreichische Künstlerduo Muntean/Rosenblum wählt für viele seiner Werke Nicht-Orte als Kulissen. In der Ausstellung „Mirror of Thoughts“ im Städel Museum sind es ein Flughafen-Gate, ein Hotelzimmer, ein Großraumbüro, ein Parkhaus, die Rolltreppen von Unterführungen sowie Einkaufszentren. An diesen anonymen Orten kommen die jungen Protagonisten der meist großformatigen Werke zusammen und sind doch alleine: Ihre Blicke weichen sich häufig aus, die Interaktionen passen teilweise nicht zur Verortung. Diese kleinen Störfaktoren im Bildaufbau sind auf die besondere Technik des Duos zurückzuführen. Sie verwenden für ihre Gemälde vorgefundenes Material aus einem von ihnen angelegten Archiv aus Lifestyle-Magazinen und dem Internet. Dieses Bildmaterial fügen sie collagenartig digital neu zusammen. Durch die anschließende malerische Übertragung auf Leinwand entstehen gänzlich neue Welten, die es so nie gegeben hat. Den Figuren wird also ihre ursprüngliche Identität, ihr eigentlicher Kontext, in dem sie abgelichtet oder in einem Magazin abgedruckt wurden, genommen. Anstatt den Figuren nun in den Gemälden neue Funktionen zuzuweisen, versuchen Muntean/Rosenblum die Aussage des Bildes bewusst in der Schwebe zu lassen.

Muntean/Rosenblum, Untitled (“What lies ahead...”) 2023, Courtesy of the artists, © Muntean/Rosenblum, Foto: © Sandro E. E. Zanzinger Photographie 2023

In „Untitled (“What lies ahead…”)“ (2023) befinden sich die drei Protagonisten in dem Wartebereich eines Flughafens, doch scheint keiner von ihnen auf einen Flug zu warten. Eine junge Frau erhebt die Hand, als hielte sie darin etwas fest, das nun aber nicht mehr sichtbar ist. Der junge Mann in der Mitte macht einen Ausfallschritt, als würde er eine Bowlingkugel auf Pins ausrichten. Ein sitzender Mann liest auf einem Tablet. Wie die anderen führt er weder Koffer, Handtasche noch Rucksack mit sich. Als Betrachter dieser eigentümlichen Szenerie erfahren wir wenig über sie, kennen weder ihr Ziel noch ihre Handlung im Bild.

Aber auch wir verlieren gewissermaßen ein Stück unserer eigenen Identität, wenn wir einen Nicht-Ort betreten. Checkt man beispielsweise in ein Hotel ein, weist man sich mit seinem Ausweis an der Rezeption aus und bekommt eine Zimmernummer zugewiesen. Von da an reicht es meist aus, die Zimmernummer zu nennen, um sich innerhalb des Hotels zu verifizieren: Man wird anonym.

Vom Mensch zum Passagier

Was vielleicht zunächst negativ klingt, kann auch als eine Art der Befreiung und Chance gesehen werden. Der alltägliche Ballast kann für einen Moment abgelegt werden, man ist nun vor allem ein Hotelgast oder folgerichtig am Flughafen ein Passagier und im Einkaufszentrum ein Kunde. Diese Transformation des Individuums hin zu einer Vereinheitlichung lässt sich auch auf die Bildwelten des Künstlerduos Muntean/Rosenblum übertragen. Die malerische Darstellung der Figuren löst sie von ihrem Gegenüber in der realen Welt und ermöglicht eine neue, wertfreie Betrachtung.

Flughäfen, Büros, Hotels, Bahnhöfe: Nicht-Orte untermauern das Werkprinzip von Muntean/Rosenblum, das sich vor allem mit den Möglichkeiten der Malerei beschäftigt. Bereits mit der Entscheidung, ihre Motive aus einem Archiv zu beziehen und ihre jeweilige Identität zugunsten einer gemeinsamen Handschrift aufzugeben, stellt das Künstlerpaar die Malerei vor eine Herausforderung: die der fehlenden Autorschaft. Das Konzept der Nicht-Orte ist die konsequente Weiterführung dieser Überlegungen. Indem Muntean/Rosenblum ihren Werken eine thematische Aussage mit größter Sorgfalt entziehen, werden wir als Betrachter in unserer eigenen Wahrnehmung herausgefordert: Was wollen wir in den Bildern sehen? Wie interpretieren wir die Szenen? Was ist real und was nicht?


Die Autorin Svenja Grosser ist Leiterin der Sammlung Gegenwartskunst und Kuratorin der Ausstellung „Muntean/Rosenblum. Mirror of Thoughts“, die noch bis zum 1. Dezember 2024 im Städel Museum zu sehen ist.  

Fotografisch begleitet wurde der Beitrag von Esra Klein

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