Die Sehnsucht nach Italien reicht lange zurück. Welche Rolle die Fotografie dabei spielt und was Goethe damit zu tun hat, hat Kuratorin Kristina Lemke im Interview verraten.
Bildungsreisen gehörten als „Grand Tour“ schon seit Jahrhunderten zum Programm des europäischen Adels und des Bürgertums. Wieso wurde gerade Italien zu einem Sehnsuchtsort?
Kristina Lemke: Die „Grand Tour“ in den Süden war seit Ende des 16. Jahrhunderts als Bildungsreise Pflichtprogramm für die Repräsentanten der europäischen Oberschicht, aber Goethe hat mit seiner „Italienischen Reise“ von 1816/17 einen regelrechten Reiseboom ausgelöst. Und als Eisenbahnstrecken ab 1840 das Land erschlossen und das Reisen enorm erleichterten, entwickelte sich ein moderner Tourismus. Zeitgleich eröffneten an den Hotspots Fotografenstudios. Das wurde dann zum Selbstläufer, denn Fotografien fanden als Souvenir reißenden Absatz und popularisierten das Bild Italiens.
Viele der ausgestellten Fotografen hatten einen künstlerischen Hintergrund als ausgebildete Maler, Kupferstecher oder Dergleichen, bevor sie sich der damals neuen Technik widmeten. Wie kam es dazu?
Künstler mussten auch schon zur damaligen Zeit von irgendetwas leben. Und das neue Medium hat sich als lukratives Geschäft entpuppt. Die Fotografie war eine schnelllebige Branche – sobald ein Abzug nicht namentlich den Urheber aufführt, lässt sich heute kaum mehr nachvollziehen, von wem sie stammt. Wegen der rasanten Verbreitung der Fotografie fühlten sich viele bildende Künstler regelrecht bedroht. Um dem Einhalt zu gebieten, forderten sie in einer Petition vom 15. Mai 1858 an den römischen Minister Camillo Amici sogar eine Art Verbot für die Fotografie.
Wofür wurden die Fotografien angefertigt?
Fotografien konnten, wie heute auch, vieles sein: sie waren einerseits Erinnerungen, Souvenirs so zu sagen, die man in Alben zusammengestellt hat. Sie waren aber auch Dokumentationsmaterial oder einfach Studienobjekt. Fotografien konnten aber auch schon in Richtung Reportage gehen, wie die Bilder vom Vesuvausbruch von Giorgio Sommer zeigen. Durch eine Zeitungsanzeige wissen wir, dass er seine Ansichten von Italien für durchschnittlich 5 Goldmark verkauft hat, das wären umgerechnet heute knapp 50€ pro Abzug. Im Vergleich mit den damaligen Gehältern war das ein beträchtlicher Preis: Ein Maurer verdiente um 1870 zum Beispiel in einer Woche mit sechs Werktagen rund 18 Mark.
Mit dem Smartphone kann man heute binnen Sekunden Schnappschüsse machen. Wie darf man sich den Aufwand für ein Foto zur damaligen Zeit vorstellen?
Schauen wir uns dazu doch eine Fotografie von Carlo Naya an, der ab den 1860er-Jahren zum bekanntesten Stadtchronisten Venedigs wurde. Eine solche Ansicht versuchen auch heute noch Venedigreisende einzufangen. Doch spontan ist an der Fotografie des 19. Jahrhunderts rein gar nichts: Die beiden Gondolieri deuten den Körpereinsatz zur Fortbewegung nur an. Stattdessen fixieren sie mit ihren langen Riemen die Gondel, damit diese scharf erfasst werden konnte. Es war eine lange Belichtungszeit von mehreren Minuten notwendig, weshalb auch das Wasser als spiegelglatte Fläche erscheint.
Die gezeigten Exponate gehören zum historischen Fotografie-Bestand des Städel Museums und gelangten schon früh in die Sammlung. Wie kam es dazu?
Das geht auf Johann David Passavant zurück. Vor seinem Amt als Direktor des Städelschen Kunstinstituts wollte er als Maler Karriere machen. Dafür hatte er sich im Kreise der Nazarener sieben Jahre in Italien niedergelassen. Aber dann entdeckte er seine Liebe zur Wissenschaft. Seinem einstigen Idol Raffael widmete er 1839 eine zweiteilige Monografie, die ihn international bekannt machte – zufälligerweise wurde im gleichen Jahr die Fotografie erfunden. Auch Passavant war an dem neuen Medium interessiert und hat um 1850 begonnen Fotografien für die Sammlung anzukaufen, zum Beispiel von Charles Thurston Thompson.
Passavant erkannte die Chance, Kunst in reproduzierter Form einem großen Publikum nahezubringen. Die Abzüge waren im Kupferstichkabinett für die Mitarbeiter des Kunstinstituts, Studierende der angegliederten Kunstschule und das allgemeine Publikum zugänglich. Dazu kamen bereits früh auch schon Schenkungen aus Privatbesitz an das Museum, was den Frankfurter Bürgersinn, wie wir ihn auch heute noch kennen, unterstreicht. Julius Ziegler beispielsweise, eigentlich ein Frankfurter Naturwissenschaftler, sind Aufnahmen von Pompeji zu verdanken.
Reiseziele sind „Trends“ unterworfen, die durch Soziale Netzwerke beeinflusst werden. Gerne wird wunderschönen Foto-Locations sogar nachgereist, um selbst Bilder dieser Orte zu posten. Hatten die Fotografen damals einen ähnlichen Einfluss auf den Tourismus?
Ja, die Fotografie hatte definitiv einen Einfluss auf den Tourismus. Ich glaube auch, dass damals unteranderem durch Fotografie die Grundlage dafür entstanden ist, dass wir tatsächlich so reisen, wie wir heute reisen. Es sind ja oft Bilder, die uns dazu anregen, ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Oft wollen wir dann auch genau von diesem Ort einen Schnappschuss haben – am liebsten mit uns selbst drauf, wie ein ultimativer Beweis dafür, wirklich auch dort gewesen zu sein. Das war früher in der Fotografie technisch noch nicht möglich, aber es gab durchaus bereits die Tendenz in der Malerei: Dass man sich selbst in der italienischen Landschaft hat porträtieren lassen, oder, wie in Passavants Fall, ein Selbstporträt angefertigt hat.
Welche Aufnahme hat bei der Recherche deine Reiselust am meisten geweckt?
Ich bin schon viel durch Italien gereist und somit haben die Fotografien eher Erinnerungen wachgerufen. So wie mir geht es auch anderen, die die Ausstellung besuchen. Es kommt sofort ein „Ach wie schön, dort waren wir auch mal“ – obwohl die Aufnahmen wohlgemerkt 150 Jahre alt, noch ohne Farbe und meist menschenleer sind, wecken sie Emotionen. Darin zeigt sich doch besonders eindrücklich, wie die Bildwelten von damals als Katalysator für den Tourismus bis heute nachwirken – und Italien zum ewigen Sehnsuchtsort machten.
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