Ein einmaliger Bestand, äußerst selten und kostbar: Die frühen Kupferstiche des Städel Museums. Zu verdanken ist er einem Mann des 19. Jahrhunderts, der als einer der ersten genau hinschaute – Johann David Passavant.
Dürer war schon immer gefragt. Als das Städel Museum nach dem Tod des Stifters Johann Friedrich Städel im Jahr 1816 seine Arbeit aufnahm, scheute man weder Geld noch Mühe, so schnell wie möglich einen umfassenden und qualitätvollen Bestand der Druckgrafiken Albrecht Dürers (1471–1528) aufzubauen. An früheren Druckgrafiken, also „vor Dürer“, hatte man dagegen keinerlei Interesse.
Dabei hatte es gedruckte Bilder schon seit Jahrzehnten gegeben, als Dürer um 1495 seine Werkstatt in Nürnberg gründete und mit der Herstellung und dem Verkauf von Kupferstichen und Holzschnitten begann. Die Werke, die er dann schuf, wurden grundlegend für eine neue Kunstauffassung, sie waren nicht mehr „mittelalterlich“, sondern vorbildhaft für die „Neuzeit“. Was zuvor entstanden war, verstand man in den nächsten Jahrhunderten als noch nicht wirklich entwickelte Kunst, eher als eine „primitive“ Vorform.
Mit Johann David Passavant (1787–1861), der im Jahr 1840 Inspektor, also Leiter, der Sammlungen des Städel Museums wurde, geriet die Kunst des 15. Jahrhunderts ganz neu in den Blick. Passavant stammte aus einer Frankfurter Kaufmannsfamilie. Von Kindheit an für die bildende Kunst begeistert, durfte er sich nach dem Absolvieren einer Banklehre zum Maler ausbilden lassen. 1817 schloss er sich dem Kreis der „Nazarener“ in Rom an.
Diese jungen, romantischen deutschen Maler brachen radikal mit den Traditionen der Kunstakademien: Erlernbare, akademische Virtuosität galt ihnen als leere Augentäuscherei. Sie wollten zurück zum „wahren“ Ursprung der Kunst, den sie bei den mittelalterlichen Meistern zu finden glaubten. Dort, so ihre Vorstellung, wurden noch einfache, bescheidene, unmittelbare und allgemein verständliche Werke mit einer christlich-frommen Sicht auf die Welt geschaffen. Die „Helden“ der Nazarener waren Dürer und Raffael – sie verstanden sie allerdings nicht als Begründer einer neuen Epoche, sondern als Vollender der mittelalterlichen Kunst, die danach nie wieder übertroffen wurden.
Statt selbst nur zu Malen konzentrierte sich Johann David Passavant seit den 1820er-Jahren mehr und mehr auf das Erforschen jener alten Kunst, die den Nazarenern so wertvoll war, und wurde damit einer der Väter der Kunstwissenschaft, wie sie heute an Universitäten gelehrt wird. Nach zehnjähriger Arbeit veröffentlichte er 1839 die erste moderne wissenschaftliche Monografie über Raffael. Kurz danach wurde er zum Sammlungsleiter des Städel Museums ernannt. Als Kunstforscher hatte er vielfältige Verbindungen zu Sammlern, Museen und Kunsthändlern in ganz Europa aufgebaut – dadurch gelangen ihm äußerst bedeutende Erwerbungen, etwa wertvolle Zeichnungen Raffaels für die Graphische Sammlung oder kostbare Gemälde wie die Lucca-Madonna von Jan van Eyck, ca. 1437, für die Gemäldesammlung des Städel Museums.
Bald nach 1840 wurde er auf Kupferstiche des 15. Jahrhunderts aufmerksam, die auch deshalb kaum erforscht waren, weil sie oft extrem selten sind. Bis dahin besaß das Städel Museum lediglich einzelne Werke von frühen Kupferstechern, deren Namen durch ältere Kunstliteratur bekannt und deren Druckgrafiken in einer größeren Anzahl von Abzügen überliefert waren – das waren vor allem Martin Schongauer (um 1445–1491) und Israhel van Meckenem (um 1440/1445–1503). Durch Passavant gelangten jetzt auch seltene Kupferstiche von anonymen Stechern und Monogrammisten in die Sammlung.
Ein Schlüsselerlebnis für Passavant war die Erwerbung des Heiligen Hieronymus des „Meisters mit den Bandrollen“. Passavant entdeckte diesen Kupferstich, von dem man bis heute nur drei Abzüge kennt, 1843 bei einem Antiquar in Würzburg und hielt ihn für das Werk eines sehr frühen, technisch noch unerfahrenen, aber fantasievollen Kupferstechers. Einige Jahre später, 1850, beschrieb er ihn in einem großen Aufsatz über die Geschichte des frühen Kupferstichs als Beispiel für die ersten Anfänge dieser druckgrafischen Technik.
Passavant machte den frühen Kupferstich zu seinem Forschungsschwerpunkt. Seine Arbeit beruhte auf ausgedehnten Reisen – teils in der Postkutsche, teils in der neu entstehenden Eisenbahn. Jahr für Jahr besuchte er institutionelle und private Sammlungen, Kunsthändler und Kunstauktionen in den wichtigsten deutschen und europäischen Städten. Überall notierte er sich gewissenhaft die Werke, die er sah, und die Beobachtungen, die er machte, in kleinen Reisenotizbüchern.
Seine Notizen übertrug er anschließend an den entsprechenden Stellen in Fachbücher, vor allem in das ältere Druckgrafikverzeichnis von Adam Bartsch, in das er dafür eigens leere Seiten einbinden ließ. Die so geordneten Erkenntnisse flossen schließlich in eigene Veröffentlichungen ein. Neben dem schon erwähnten Aufsatz zum frühen Kupferstich war das vor allem Passavants großes Spätwerk, eine sechsbändige Publikation über die Druckgrafiken des 15. und 16. Jahrhunderts.
Als nazarenischer Maler hatte Passavant einen besonderen Sinn für die raren, meist frommen, oft unscheinbaren, schlichten und doch so erzählfreudigen frühen Kupferstiche. Als kunstwissenschaftlicher Forscher vertiefte er das Wissen über sie, und als Sammlungsleiter baute er mit diesem Wissen einen einzigartigen Bestand auf, der heute zu den besonderen Reichtümern der Graphischen Sammlung des Städel Museums gehört. Sein Schaffen reicht über die Bestände hinaus: Mit seiner Arbeit begründete er damit um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht weniger als die kunstwissenschaftliche Forschung als Grundlage der Arbeit im Museum.
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