Vor über 40 Jahren kaufte Thomas Walther einen seiner ersten Abzüge, eine Fotografie von Ilse Bing. Mittlerweile hat er eine der weltweit größten Fotosammlungen aufgebaut. Ein Gespräch über seine enge Vertraute, die Fotografie – und Frankfurt.
Kristina Lemke: Herr Walther, fangen wir von vorne an. Wie und wo haben Sie Ilse Bing kennengelernt?
Thomas Walther: Das war 1978 auf einem Händlerkongress im Eastman-House in Rochester, wo über den Stand der Fotografie als Sammelgegenstand getagt wurde. Dort bin ich über Umwege auf die Fotografien von Ilse Bing aufmerksam geworden und kaufte „Telegraphenmasten“ – das war eine meiner allerersten Erwerbungen überhaupt. Persönlich kannte ich Ilse da noch gar nicht. Es kam erst kurze Zeit später zu einer Begegnung in New York, wo ich damals lebte, und ich war direkt beeindruckt von ihrem ganzen Wesen. Bei ihr und ihrem Mann, dem Pianisten Konrad Wolff, wurde ich über 20 Jahre herzlich willkommen geheißen. Die Zeit hat mich sehr geprägt. Gisèle Freund, mit der Ilse bis zum Ende ihres Lebens eng befreundet war und die ihr den Titel „Queen of the Leica“ gab, berichtete ähnliches. Bing hat immer direkt einen bleibenden Eindruck bei ihrem Gegenüber hinterlassen.
Ilse Bings Biografie zeugt schon von einem starken Charakter: Aus einer gutbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie stammend, wächst sie in Frankfurt auf, bricht ein Mathematik- und Kunstgeschichtsstudium ab und macht sich ab 1929 im männerdominierten und einkommensunsicheren Bereich der Fotografie selbstständig. Sie wandert 1930 nach Paris aus, ist bald in allen namenhaften Illustrierten vertreten. Ihre Fotografien wurden sogar bereits 1936 in der June Rhodes Gallery in New York ausgestellt, woraufhin ihr eine Festanstellung beim Life Magazin angeboten wurde – das Angebot lehnte sie jedoch tragischerweise ab. Nach der deutschen Westoffensive im Mai 1940 wurde sie wie zahlreiche deutsche Emigranten auf Anordnung der französischen Regierung vorübergehend in das Internierungslager Gurs nahe der spanischen Grenze gebracht. Erst nach Monaten des Wartens im unbesetzten Südfrankreich konnte sie schließlich durch Beziehungen der Art Directorin Carmel Snow in die USA flüchten.
Da war sie völlig mittellos – wie viele andere Exilanten. Wegen der hohen Zollgebühren musste sie alles in Frankreich wegwerfen, weshalb viele ihrer frühen Fotografien so eine Rarität darstellen.
In der Geschichtsschreibung spricht man von der „verschollenen Generation“. War diese Zeit ein Thema zwischen Ihnen?
Sie haderte schon sehr mit der „verlorenen“ Heimat, in die sie auch nicht mehr zurückkehren wollte. In den 1990ern waren wir noch einmal zusammen in Deutschland, auch in Frankfurt am Main. Da war sie doch sehr wehmütig, aber direkt darüber gesprochen haben wir nicht, denn es fiel ihr sichtlich schwer.
Haben Sie denn über ihre Zeit in Frankfurt gesprochen? Wie kam sie zur Fotografie?
Durch das Studium kam sie auch mit der Fotografie in Berührung, denn für eine geplante Doktorarbeit über den Architekten Friedrich Gilly wollte Ilse Fotografien zur Dokumentation nutzen. Dafür erwarb sie sogar 1924/25 eine Voigtländer-Kamera und brachte sich die Technik selbst bei. Sie bewegte sich in Frankfurt auch in einem kreativen Zentrum, das vor allem durch das sogenannte „Neues Frankfurt“ an Aufschwung gewann (Anm. d. Red.: Die Reformbewegung des Stadtprogramms erstreckte sich nicht nur auf den Wohnbau, sondern auf alle Lebensbereiche).
Ähnlich den Bestrebungen des Bauhauses wollten Kulturtreibende in der Mainmetropole die bis dahin getrennten Bereiche von freier und angewandter Kunst gesellschaftlich als Einheit etablieren. Ein bedeutender Schritt war die Zusammenführung der Städelschule und der Frankfurter Kunstgewerbeschule in der Frankfurter Kunstschule für freie und angewandte Kunst im Jahr 1923. Im Zuge dessen fand auch die Fotografie als künstlerisches Gestaltungsmedium die ihr gebührende Beachtung.
Das hat Ilse sehr beeinflusst. Befreundet war sie mit Robert Michel und Ella Bergmann-Michel, durch die sie auch mit Kurt Schwitters, Walter Dexel oder Piet Zwart in Kontakt kam.
Nach eigenen Angaben wurde sie durch eine Ausstellung im Frankfurter Kunstverein 1929 – was die Ausstellung Fotografie der Gegenwart gewesen sein muss – in der Entscheidung bestärkt, hauptberuflich als Fotografin zu arbeiten.
Das kann sein. Zumindest hat sie sich ab 1929 ganz der Fotografie gewidmet und war direkt sehr erfolgreich. Sie erhielt Aufträge für Reportagen oder Einzelveröffentlichungen über Max Geisenheyner (Anm. d. Red.: Redakteur für Das Illustrierte Blatt der Frankfurter Zeitung).
So auch die wunderbare Aufnahme der „Telegraphenmasten“, die Sie uns dankenswerterweise geschenkt haben. Das Foto ist eine ideale Ergänzung für die Ausstellung „Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre“. Glauben Sie, das hätte Ilse Bing auch gefallen?
Davon bin ich felsenfest überzeugt und sehe ihr strahlendes Gesicht vor mir.
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