Das Städel Museum verdankt Wilfried Wiegand über 200 Fotografien, die die Sammlung der Kunst der Moderne nachhaltig verändern sollten. Wir nehmen Abschied und erinnern an seinen Einsatz für die Fotografie.
Wilfried Wiegand (*1937, Berlin), ein passionierter Kunsthistoriker und Journalist, verstarb am 8. Mai 2020. Das Städel Museum erhielt 2011 von seiner Frau Uta Wiegand und ihm über 200 Fotografien aus dem 19. und 20. Jahrhundert – teils als Ankauf, teils als Schenkung –, mit denen ein neuer Schwerpunkt in der Sammlung der Kunst der Moderne gesetzt werde konnte. Wiegand, der selbst gerne Kurator in einem Museum geworden wäre, arbeitete unter anderem als Redakteur für „Die Welt“, „Der Spiegel“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, bei der er bis zu seinem Ruhestand blieb. 2005 erhielt er den Kulturpreis der Gesellschaft für Fotografie und 2017 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Dresden in Anerkennung seiner herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der kunst- und kulturhistorischen Vermittlung sowie seiner besonderen Verdienste um die Erforschung der Fotografie und des Films verliehen. Wir verneigen uns in Dankbarkeit.
„Wir müssen aufhören, im Fotografen den verhinderten Maler zu sehen, auch wenn die Fotografen oft Malerei studiert hatten und sich sogar weiterhin stolz als Maler bezeichneten. Der Fotograf der Frühzeit verfügte über ein ästhetisches Virtuosentum.“ Wilfried Wiegand sah in Fotografen des 19. Jahrhunderts eigenständige Künstler. Obwohl die Meisten ausgebildete Maler waren – Gustave Le Gray etwa hatte bei Paul Delaroche studiert – und ihre Bildkomposition dem Aufbau von Gemälden entsprach, wurde die Fotografie noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als angebliche „Maschinenkunst“ geringgeschätzt. Diese Vorurteile entkräftigte Wiegand: Für ihn waren „die Fotografen der ersten Jahrzehnte nicht minderbegabte Kunstdilettanten, sondern Kunstvirtuosen, die für ihren extrem entwickelten Schönheitssinn nach einem neuen Betätigungsfeld suchten und es schließlich in der Fotografie fanden“.
Deshalb setzte sich der promovierte Kunsthistoriker bereits in den 1970er-Jahren für die Anerkennung der Fotografie als eigenständige Kunstgattung ein – zu einem Zeitpunkt, als alte Abzüge höchstens in Archiven von Institutionen und Museen schlummerten. Und legte selbst, zusammen mit seiner Frau Uta Wiegand, eine Sammlung an. Als ich das Ehepaar einmal fragte, wie es war, damals Fotografien zu sammeln, lächelten sie sich wissend an. Leicht war es nie, weil gute Qualität gefunden werden musste – und auch schon damals seinen Preis hatte. Die Fotografien fanden sie meist auf Reisen, die beide, er als Journalist und sie als Modedesignerin, beruflich viel unternahmen. War ein Lieblingsstück gefunden, waren sie sich immer schnell einig. Zuhause wurde für die Schätze ein geeigneter historischer Rahmen ausgesucht, den sie mit mindestens ebenso großer Leidenschaft in Antiquitätengeschäften aufspürten. Auch das war eine Besonderheit, die sonst nur Gemälden zuteilwurde. „Jeder individuelle Rahmen ist ein Kompliment“, sagte Wilfried Wiegand. An den eigenen vier Wänden waren die Fotografien zugleich Inspiration und ständiges Studienmaterial.
Wilfried Wiegand verfasste neben Büchern zu Andy Warhol oder Pablo Picasso mehrere Abhandlungen zur Fotografiegeschichte, die heute als Standardwerke gelten, wie Frühzeit der Fotografie (1980), Die Wahrheit der Fotografie (1981) oder Eugène Atget „Paris“ (1998). In ihnen finden sich auch zahlreiche Fotografien seiner Sammlung wieder. Er schrieb über Kompositionen und Tonungen einer Fotografie so detailliert und präzise, wie andere beispielsweise über die pastose Malerei van Goghs: „Das Entscheidende, was solche fotografischen Meisterstücke von uns verlangen, ist Zeit, viel Zeit. Sie zwingen uns zur Entschleunigung des Blicks, drücken uns gleichsam eine Lupe in die Hand.“
Bei dieser besonderen Wertschätzung für das Medium war es für das Ehepaar naheliegend, dass die eigene fotografische Sammlung in einen Museumsbestand aufgenommen werden sollte. So kam 2011 ein Konvolut von etwa 200 Fotografien – zusammen mit 40 historischen Rahmen – in die Bestände des Städel Museums. Die Sammlung veranschaulicht die Entwicklung der Fotografie von ihren Anfängen bis in die Klassische Moderne hinein. Der Schwerpunkt liegt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vertreten sind Ikonen der Fotografie: Gustave Le Gray und Nadar ebenso wie Judith Margaret Cameron, Eadweard Muybridge und Eugène Atget, außerdem Edward Steichen, Paul Outerbridge, Dora Maar oder André Kertész. Viele Fotografien enthalten kunstgeschichtliche Referenzen, auch wenn die Fotografinnen und Fotografen nicht bewusst den Vergleich mit Vorbildern der bildenden Künste suchten. Das gilt für Roger Fentons malerisch wirkende Aufnahme The British Museum von 1857 ebenso wie für Gustave Le Grays Foto Salut der französischen Flotte vor Cherbourg von 1858, das an klassische Seestücke erinnert. Nach Wiegand sei es kein Zufall, dass viele Fotografien an Werke der Malerei erinnern, da wir im Unterbewusstsein eine Vielzahl an Erinnerungen gespeichert haben. Die Malerei zeige ein gemachtes, die Fotografie ein geschautes Bild. Seither sind die Lichtbilder Seite an Seite mit Gemälden und Skulpturen der Epoche in der Sammlungspräsentation zu sehen, wie es sich der gebürtige Berliner immer gewünscht hatte.
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