Niemand kennt den historischen Bestand der Fotografien am Städel so gut wie Kristina Lemke – wie sie die Sammlung weiterentwickelt und warum dabei immer auch die Rückseite einen Blick wert ist.
Fotografie hat am Städel Museum Tradition: Ab 1850, ungewöhnlich früh, wurden bereits Fotografien gesammelt. Die Abzüge dienten vor allem als Hilfsmittel, um Kunstwerke durch Reproduktionen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Sie sollten aber auch als Arbeitsmaterial für die Studenten der Kunstschule dienen, die dem Museum seit seiner Gründung angegliedert war. Schon um 1900 aber hatte das neue Medium für den Museums- und Lehrbetrieb keine Bedeutung mehr, Bücher und Zeitschriften übernahmen die Aufgabe günstiger. Anderorts wurden vergleichbare Fotobestände kurzerhand entsorgt, am Städel allerdings hat man sie aufbewahrt. Lange schlummerten diese Fotografien im Dornröschenschlaf.
Konvolute wie vom Ehepaar Wiegand (seit 2011) oder dem Ehepaar Kicken (seit 2013) ließen diesen ursprünglichen Bestand dann immer weiterwachsen. Es gibt also viel zu entdecken, erforschen und weiterzuentwickeln – diesen Aufgaben widmet sich Kristina Lemke, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Moderne. 2014 wurde in der großen Ausstellung „Lichtbilder“ die fotografische Sammlung der Moderne von den Anfängen bis 1960 zum ersten Mal umfassend ausgestellt.
Im Städel wird sich aber auch mit aktuellen Positionen der Fotografie auseinandergesetzt, zum Beispiel in den Ausstellungen zur Becher-Klasse im Jahr 2017 oder Ursula Schulz-Dornburg 2018. Die gesamte Sammlung Fotografie am Städel konnte bis in die jüngste Zeitgenossenschaft erweitert werden: Durch die Übergabe von über 220 Fotografien aus dem Bestand der DZ BANK Kunstsammlung (seit 2008) und durch wichtige Neuerwerbungen und Schenkungen. Damit erstreckt sich die Fotosammlung heute über drei Jahrhunderte und umfasst zwei Sammlungsbereiche, die Abteilung Moderne und die Gegenwart – mit insgesamt rund 5.000 Abzügen.
Heute kümmert sich Kristina Lemke als Kuratorin um den Fotografiebestand der Moderne am Haus, aber ihre Anfänge am Städel gehen genau zu den Jahren zurück, als die Fotografie hier neu aufblühte und erstmals gleichberechtigt mit Gemälden ausgestellt wurde: Ab 2011 leistete sie zunächst Grundlagenarbeit und inventarisierte den Altbestand – schließlich soll die Sammlung auch zukünftigen Generationen leicht zugänglich sein. Die Arbeit mit dieser Fülle an Originalen, den unzähligen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, begeisterte sie: „Wenn man Fotografien betrachtet, ist das immer wie Spazierengehen, man kann mit der Lupe reingehen und eintauchen.“ Kristina Lemke begann tiefer zu forschen und schrieb eine Dissertation über den Fotografen Paul Wolff. Die wichtigste Schule aber blieben die Fotografien selbst und die intensive Beschäftigung mit den Originalen, der unterschiedlichen Beschaffenheit des Papiers und den vielseitigen Techniken, die im Laufe der Jahre Lichtbilder mit immer neuer Wirkung hervorbrachten.
Doch Kristina Lemkes Ansatz, die Sammlung aufzuarbeiten, geht über die Abzüge hinaus: „Fotografien waren ursprünglich nicht dazu gedacht, gerahmt an einer Museumswand zu hängen – für mich gehört deshalb der Kontext, in dem die Werke entstanden sind oder dem sie zugeführt werden, immer dazu.“ Wo kommen die Fotografien her? Zu welchem Zweck wurden sie angefertigt? Wo wurden sie als erstes veröffentlicht? Diese Fragen helfen der Kunsthistorikerin dabei, auch dem Bedeutungswandel des Mediums nachzuspüren. Ganz praktisch bedeutet das: viel Archivarbeit und geduldiges Stöbern, zum Beispiel in Hunderten alten Zeitschriften, Postkarten oder Büchern, bis sie die Abzüge der eigenen Sammlung dort wiederentdeckt. Hilfreich sind Datenbanken, die besonders seltene Magazine bereits gescannt haben.
Doch Kristina Lemke hat nicht nur ein Auge auf die Vergangenheit, sondern entwickelt die Sammlung auch stetig weiter: Sie beobachtet die aktuelle Forschung, den Markt, hält Kontakt zu Privatsammlern – und packt mit an, wenn es darum geht, Neuzugänge ins Haus zu begleiten. Dabei fand sie sich schon zwischen mehreren Umzugskisten aus dem Baumarkt, prallgefüllt mit Fotografien, wieder. Dann beginnt das Spiel des Inventarisierens von vorne: auspacken, sichten, ordnen, recherchieren.
Dazu bleibt sie im regen Austausch mit wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen und vernetzt sich: Den Eigenbestand des Städel kann sie nicht ohne den Blick nach draußen verstehen. Diesen Raum für Diskurs schafft sie mitunter auch selbst. Erst diesen Herbst organisierte sie vorbereitend zur Ausstellung „Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre“ ein Symposium, das Forscherinnen und Forschern die Möglichkeit zum Austausch bot. Dort testete sie auch eigene Thesen aus und lässt die Ergebnisse nun direkt in die laufende Arbeit einfließen.
Kristina Lemke formt mit ihrer Arbeit maßgeblich die Schwerpunkte der Sammlung Fotografie am Städel Museum: Die Idee zur Ausstellung „Neu Sehen“ entwickelte sie aus der Sammlung heraus – 70% der gezeigten Werke kommen aus dem Eigenbestand. Doch die Verbindung zum Thema ist auch eine persönliche: In ihrer Dissertation über den Frankfurter Fotografen Paul Wolff beschäftigte sie sich mit einem Aspekt der Fotografiegeschichte, der bisher wenig bearbeitet wurde. Die Ästhetik der 1920er Jahre wurde bei dem neuen Medium nämlich auch in die 1930er getragen und zeigte sich auch in der Zeit des Nationalsozialismus experimenteller und progressiver, als das Regime es zum Beispiel bei Gemälden zugelassen hatte.
Beim Kuratieren legt Kristina Lemke den Fokus auf vergleichendes Sehen, Analogien und Fotografie als Gebrauchsgegenstand mit verschiedenen Aufgaben oder Botschaften. Wir können uns also auf abwechslungsreiche Exponate freuen – Poster, Bücher, Zeitschriften, Postkarten und kleine Sammelkarten bringen uns die Lebenswelt der 1920er und 1930er Jahre nahe.
Fotografie musste sich wegen ihrer Reproduzierbarkeit den Platz in der Kunstgeschichte erst „erkämpfen“. Von manchen Motiven gibt es gleich mehrere Abzüge. Was dem Medium zunächst als Schwäche ausgelegt wurde, nützt bei der Ausstellungsarbeit. Denn damit gibt es immer auch verschiedene potenzielle Leihgeber, die die Kuratorin anfragen kann: „Einerseits ist es toll, so viel Auswahl zu haben, aber oft habe ich auch die Qual der Wahl!“
Bei ihrer Tätigkeit hält Kristina Lemke den Kontakt mit vielen Fotoenthusiasten und -enthusiastinnen, denn oft sind es frühe Sammlerinnen und Liebhaber wie Manfred Heiting, die besonders rare Abzüge ihr Eigen nennen können und breites Wissen haben. Einige dieser Abzüge, die mittlerweile zur Städel Sammlung gehören, sind demnächst in einem eigenen Fotokabinett zu sehen, das Kristina Lemke gerade einrichtet: Es ist dem kürzlich verstorbenen Wilfried Wiegand gewidmet. Solche Fotokabinette sind in der Sammlung Kunst der Moderne übrigens im sechsmonatigen Wechsel zu sehen – schließlich dürfen die lichtempfindlichen Abzüge immer nur kurz ausgestellt werden. Der Vorteil: Besucherinnen und Besucher können so bei jedem Städel Besuch neue Fotografien aus dem Bestand entdecken.
Viele Fotografennamen sind noch unbesetzt und werden erst erforscht. Statt aufgearbeitete Werkverzeichnisse und Ausstellungskataloge zu wälzen, geht es für Kristina Lemke bei der Vorbereitung zur Ausstellung deshalb oft direkt wieder ins Archiv oder in Bibliotheken mit alten Zeitschriften und Büchern, die mit Fotografien illustriert wurden. Beim Arbeiten mit Fotografie ist Entdeckergeist gefragt, und manchmal Geduld.
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