Unsere Wahrnehmung ist einem ständigen Wandel unterworfen. Das gilt für die Betrachtung der Natur genauso wie für die Kunstgeschichte: Eine kleine Paradiesfrucht zum Beispiel sollte man immer wieder neu hinterfragen.
Heute ist es wissenschaftlich bewiesen, dass der Mensch durch seine Lebensweise eine rasante Veränderung des Klimas zu verschulden hat. Im Mittelalter wäre es eine ketzerische Anmaßung gewesen, menschliches Handeln mit Naturphänomenen in Verbindung zu bringen. Wie das Leben allgemein, so war auch die europäische Kunst im Mittelalter weitestgehend dem Christentum verpflichtet und allen Naturdarstellungen lag eine christliche Symbolik zugrunde. So finden sich auch die ersten realistischen Darstellungen von Pflanzen in Mariengärten.
In Mariendarstellungen spielt die Blumensymbolik seit jeher eine bedeutende Rolle. Vor 1400 wurden die Pflanzen stilisiert dargestellt, im Frankfurter Paradiesgärtlein, um 1410, sind bereits rund 25 Pflanzenarten detailreich und realitätsnah dargestellt. So können wir rechts unterhalb Marias blauem Mantel und hinter dem Rücken des musizierenden Jesuskindes die Pflanze einer Walderdbeere erkennen: fünfblättrige weiße Blüten, rote Scheinfrüchte und charakteristische dreiteilige Blätter – seit dem 17. Jahrhundert kennen wir in Europa eher die großfruchtigeren amerikanischen Arten. Was ist jedoch die symbolische Bedeutung einer Erdbeere auf einer Mariendarstellung?
Da die Erdbeere gleichzeitig blüht und Früchte hat, gilt sie als Symbol für Marias Jungfräulichkeit. Die niedrige Wuchsform der Erdbeere wird mit den Eigenschaften der Demut und Bescheidenheit verbunden, dies besonders, wenn sie in der Nähe des Jesuskindes dargestellt wird. Die fünf Blütenblätter können für die Kreuzigungswunden Christi stehen, die roten Früchte für sein vergossenes Blut und die dreiteiligen Blätter für die Dreieinigkeit. Außerdem gilt die Erdbeere als Symbol für das Paradies in der christlichen Kunst. Der Oberrheinische Meister unterstreicht die Zeitlosigkeit des Paradieses dadurch, dass alle Pflanzen auf seinem Gemälde gleichzeitig blühen und es keine Jahreszeit gibt.
Noch heute verbinden wir mit der Erdbeere eine Paradiesfrucht. Ihre Jungfräulichkeit hat sie allerdings verloren – auch auf Lucas van Valkenborchs Gemälde Viehweide unter Bäumen aus dem Jahre 1573. Es gilt als eine der ältesten naturhaften Walddarstellungen. Das Motiv ist hier kein christliches mehr, Valkenborch hält eine bäuerliche Alltagsszene fest. Die Haupthandlung zeigt eine Frau beim Melken einer Kuh. Neben ihr steht ein Mann, der sie offenbar abgelenkt. Die Frau verschüttet die Milch.
In der rechten unteren Ecke des Bildes sehen wir wieder Walderdbeeren mit weißen Blüten und roten Früchten. Die Erdbeere ist hier nun eher durch ihre Reifezeit im Frühling und frühen Sommer und durch die Assoziationen zur weiblichen Brustwarze als Ausdruck von Sinnlichkeit und dadurch auch als Verlockung zu lesen – der Flirt lenkt die Melkerin von ihrer Arbeit ab und führt zum Missgeschick.
Eine Erdbeere kann auf dem einen Kunstwerk ein Symbol der Jungfräulichkeit sein und auf dem nächsten für sexuelle Lust stehen. Dinge können ihre Symboliken verändern und auch gleichzeitig bei unterschiedlichen Betrachterinnen und Betrachtern diverse Assoziationen auslösen. In Kunstwerken wie dem Paradiesgärtlein stellte das ständige Blühen aller Pflanzen einen paradiesischen Zustand dar. Auch heute sind Erdbeeren das ganze Jahr über verfügbar. Bedeutet dies aber, dass wir im Paradies leben?
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