Navigation menu

Simone Cantarini: Meister-Schüler

Die Ausstellung „Fantasie und Leidenschaft“ zeigt ein faszinierendes Panorama der italienischen Zeichenkunst des Barock aus den Beständen des Städel Museums. Dabei sind einzelne Künstler auch mit ganzen Werkgruppen vertreten. Bastian Eclercy, Sammlungsleiter für Italienische, Französische und Spanische Malerei vor 1800, stellt den Bologneser Zeichner Simone Cantarini vor.

Bastian Eclercy — 30. Dezember 2024

Malerei und Zeichnung am Museum

In den meisten Museen der Welt, so auch im Städel, werden Gemälde und Arbeiten auf Papier (also Zeichnungen und Druckgraphiken) von unterschiedlichen Kuratoren betreut. Für diese Trennung gibt es gute Gründe, die aber allein praktischer Natur und den unterschiedlichen Erfordernissen der Aufbewahrung und Präsentation geschuldet sind. So können Gemälde permanent in der Galerie gezeigt werden, während man Arbeiten auf Papier wegen ihrer Lichtempfindlichkeit in Boxen bewahrt und nur für begrenzte Zeit im Rahmen von Ausstellungen ans Licht holt. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Objekten existieren diese Grenzen hingegen nicht. Es ist sogar dringend geboten, sie zu überwinden: Malerei und Zeichnung hingen in der künstlerischen Praxis der Frühen Neuzeit aufs engste miteinander zusammen und wurden von denselben Künstlerinnen und Künstlern ausgeführt. Dabei wurden Gemälde oftmals durch Zeichnungen vorbereitet und geben wertvolle Einblicke in Denken und Arbeitsweise eines Malers.

So kommt es, dass sich Zeichnungskuratoren auch mit Malerei beschäftigen und Malereikuratoren auch mit Zeichnungen, zumindest punktuell. Obwohl ich als Sammlungsleiter für die italienische Malerei am Städel an dieser von meiner Kollegin Astrid Reuter kuratierten Ausstellung nicht beteiligt war, sind also die hier präsentierten Blätter für meine Forschungsarbeit von größter Bedeutung. Mein Interesse gilt, ausgehend von der Ausstellung „Guido Reni. Der Göttliche“ (2022/23), insbesondere den Bologneser Künstlern der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die in „Fantasie und Leidenschaft“ glanzvoll vertreten sind.

Simone Cantarini: ein kurzes Künstlerleben

Exemplarisch herausgreifen möchte ich einen heute weniger bekannten Meister, dessen kurzer Schaffenszeit wir gleichwohl eine Reihe faszinierender Werke verdanken. Simone Cantarini wurde 1612 in Pesaro geboren, einer Hafenstadt in der heutigen Region Marken, die damals zum Kirchenstaat gehörte und unter der Herrschaft der Familie Della Rovere stand. Nach seinem Geburtsort, an dem er auch seine Ausbildung zum Maler erfuhr, trägt er den Beinamen „il Pesarese“. Von etwa 1635 bis 1637 arbeitete Cantarini in der Werkstatt des Guido Reni in Bologna, der seinen Stil stark beeinflusste. Unter den zahlreichen Schülern Renis (über 200 nach dem vielleicht etwas übertriebenen Zeugnis seines Biographen Carlo Cesare Malvasia) war der junge Mann aus Pesaro sicher der künstlerisch bedeutendste und begabteste.

Simone Cantarini, Bildnis des Guido Reni, um 1635-37, Bologna, Pinacoteca Nazionale, Foto: Bastian Eclercy

Er schuf in dieser Zeit auch das ergreifende Bildnis seines Meisters, jenes bis heute kanonische Porträt, das den Besuchern der Reni-Ausstellung noch im Gedächtnis sein wird. Das persönliche Verhältnis der beiden Herren scheint sich dagegen zunehmend verschlechtert zu haben. So kam es bereits nach wenigen Jahren zum Zerwürfnis, Cantarini verließ das Atelier seines Meisters und die Stadt Bologna. In den Folgejahren war er wieder in Pesaro und dann in Rom tätig, um schließlich 1642 nach dem Tod Renis nach Bologna zurückzukehren. Dort eröffnete er eine eigene Werkstatt. Bereits 1648 erlag er in Verona einer schweren Krankheit.

Cantarini als Zeichner

Auch in seinem recht umfangreichen zeichnerischen Schaffen ragt Cantarini unter den Reni-Schülern heraus, nicht zuletzt, weil er bald einen ganz eigenständigen und höchst charakteristischen Zeichenstil entwickelte. Hat man sich einmal in seine Blätter eingesehen, erkennt man diese Handschrift ohne große Mühe wieder. Für den Kenner und den, der es werden will, gehört das zum großen Vergnügen beim Betrachten von Cantarinis Zeichnungen, die meist in roter Kreide, seltener mit der Feder ausgeführt sind.

Simone Cantarini, Heilige Familie mit Elisabeth und Johannes dem Täufer, um 1642-45, Frankfurt, Städel Museum

Malvasia, der bereits erwähnte Biograph der Bologneser Maler, rühmte in seiner 1678 erschienenen „Felsina Pittrice“ die Zeichenkunst des Pesaresen aufs höchste: 

Seit Parmigianino habe ich keine anmutigere und zartere Feder als seine gesehen. […] Er war der […] präziseste Zeichner unseres Jahrhunderts, der Guido nachahmte.

Dem Lob Malvasias wird man gerne zustimmen, und doch irritiert mich seine Beschreibung von Cantarinis Stil, die ich nicht recht mit den Zeichnungen selbst in Einklang zu bringen vermag. Anmut, Zartheit, Präzision? Sind es nicht eher die nervöse Erregtheit der Strichführung, die unruhige Dynamik der kurzen Linien, die Spuren der schnellen, fast zittrigen Handbewegung auf dem Papier, die Cantarinis Blätter so einzigartig machen? Vielleicht muss man sich an dieser Stelle auch eingestehen, dass uns die Seherfahrung der Moderne auf andere Merkmale achten und diese wertschätzen lässt als den Betrachter des 17. Jahrhunderts…

Die Zeichnungen im Städel

Alle fünf Cantarini-Zeichnungen in der Ausstellung, die eine hinreißende und für den Künstler repräsentative Gruppe bilden, stammen noch aus der alten Sammlung unseres Stifters Johann Friedrich Städel (1728-1816). Besonders eindrucksvoll ist der „Traum des Heiligen Joseph“, dem der Engel des Herrn erscheint und verkündet, dass seine Frau einen Sohn namens Jesus gebären wird.

Simone Cantarini, Traum des Heiligen Joseph, um 1643, Frankfurt, Städel Museum

Die hier mit Verve skizzierte Komposition ist dynamischer und überzeugender als in Cantarinis Altarbild desselben Themas im Dom von Camerino (um 1643-45), mit dem das Blatt in Verbindung gebracht wird. Die Kontur- und Binnenlinien der Figuren bestehen in der für Cantarini so typischen Manier aus einer Vielzahl kurzer, schneller, immer wieder an- und absetzender Striche, die sich zu einem nervösen Gespinst verdichten. Am intensivsten ist die Bewegung dieser Striche passenderweise bei den flatternden Gewändern des Engels, dessen Flug sie veranschaulichen. Parallelschraffuren beschreiben die Dunkelheit im Vordergrund, während die Gottesmutter im hinteren Raum im Licht erscheint.

Derselbe Zeichenstil lässt sich unschwer in dem ebenfalls mit der Rötelkreide, Cantarinis bevorzugtem Medium, ausgeführten Blatt erkennen, welches das „Attentat auf den Heiligen Carlo Borromeo“ zeigt. Im Sammlungsinventar von 1862 war diese Zeichnung Guido Reni zugeschrieben worden, und noch bis vor kurzem lag sie unter dessen Namen (wie auch das doppelseitige Blatt der „Heiligen Familie“ mit „Satyrn und nackten Männern“ auf der Rückseite). Beide sind indes ganz charakteristische Werke Cantarinis; der Neuzuschreibung im an Erkenntnissen reichen Katalog dieser Ausstellung kann ich nur zustimmen. Die Strichführung und Dynamik vor allem bei den Engeln im oberen Bereich ist aufs engste mit dem „Traum des Heiligen Joseph“ vergleichbar.

Simone Cantarini, Attentat auf den Heiligen Carlo Borromeo, um 1640, Frankfurt, Städel Museum

Cantarini als Maler im Städel

Durch einen trefflichen Zufall bewahrt das Städel Museum auch ein Gemälde aus der Werkstatt des Simone Cantarini, das ebenfalls den Heiligen Carlo Borromeo zeigt. Wie die ausgestellten Zeichnungen stammt es aus der ursprünglichen Sammlung von Johann Friedrich Städel – und hängt daher im kürzlich eingerichteten Stiftersaal. Mit der großzügigen Unterstützung des Städelschen Museums-Vereins konnte es jüngst restauriert werden und erstrahlt nach der Abnahme des vergilbten Firnisses wieder in seiner leuchtenden Farbigkeit.

Simone Cantarini (Werkstatt?), Madonna mit Kind, vom Heiligen Carlo Borromeo verehrt, um 1640, Frankfurt, Städel Museum

Simone Cantarini, Madonna mit Kind, vom Heiligen Carlo Borromeo verehrt, um 1640, Rom, Galleria Pallavicini

Hier kniet Carlo Borromeo, der bereits 1610 heiliggesprochen worden war, mit seinem unverkennbaren Profil und im Kardinalsgewand vor der Madonna. In Verehrung küsst er ihre Hand, während der Jesusknabe ihn segnet. Links oben schieben zwei Engel einen (erst nach der Restaurierung wieder erkennbaren) blauen Vorhang beiseite und kennzeichnen damit die Begegnung zwischen Carlo und der Gottesmutter mit dem Kind als Vision vor dem geistigen Auge des Heiligen („revelatio“). Die Komposition hat Cantarini entlang einer den Blick des Betrachters führenden Diagonale organisiert, die vom Kopf der Madonna und dem des Kindes über ihre Hand bis zu Carlo Borromeo führt. Dieser Bereich ist auch durch die Lichtregie besonders hervorgehoben.

Neben dem Städel-Gemälde gibt es eine weitere Fassung in der Galleria Pallavicini in Rom, die zum Vergleich auffordert. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Gegenüberstellung der Fotografien fällt meines Erachtens zum Vorteil der in Rom bewahrten, qualitätvolleren Version aus, so dass ich vorläufig davon ausgehe, dass die Fassung im Städel wohl als Werkstatt-Replik nach dem Pallavicini-Bild anzusehen ist. Aber die Forschung ist immer im Fluss: Vielleicht lassen sich ja eines Tages beide Versionen im Original nebeneinander vergleichen; dann schauen wir noch einmal mit frischem Blick auf Cantarini.


Der Autor Dr. Bastian Eclercy ist Sammlungsleiter für italienische, französische und spanische Malerei vor 1800 am Städel Museum und hat unter anderem 2022/23 die Ausstellung „Guido Reni. Der Göttliche“ kuratiert.

Die Ausstellung „Fantasie und Leidenschaft. Zeichnen von Carracci bis Bernini“ ist bis zum 12. Januar im Städel Museum zu sehen. 

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt