Wie viele italienische Künstler seiner Zeit zog es den Bildhauer Medardo Rosso in die Kunstmetropole Paris. Lange blieb er erfolglos – bis ausgerechnet seine Kompromisslosigkeit zum Durchbruch führte.
Im Mai 1889 trat der 30-jährige Bildhauer Medardo Rosso eine entscheidende Reise an und verließ Mailand in Richtung Paris. Er reiste gemeinsam mit dem gut vernetzten Journalisten und Kunstkritiker Felice Cameroni, der über die Weltausstellung und die Ausstellung Claude Monet - Auguste Rodin in der Galerie Georges Petit berichten wollte. Rosso hingegen kam als Teilnehmer der Weltausstellung – und, um zu bleiben. Die Gründe für seinen Ortswechsel waren vielschichtig: Seine Ehe war gerade gescheitert und der Künstler verschuldet. Der wirtschaftliche Druck war in Italien kein Einzelphänomen. Immerhin verließen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts pro Jahr 300.000, meist junge Männer Italien, um andernorts ihr Glück zu suchen.
Und nicht zuletzt war Rosso auf der Suche nach einem verständigeren Publikum für seine Kunst. Seine Skulpturen, die auf einen unmittelbaren Eindruck zielten, trafen in ihrer Ästhetik der Unschärfe und der vermeintlich unfertigen, rauen Werkoberflächen – Rosso goss überwiegend eigenhändig – auf wenig Verständnis. Auch wiedersprach ihre Konzeption auf einen einzigen Betrachterstandpunkt hin den Konventionen der Mehransichtigkeit von Bildwerken.
Rosso kam schnell mit einigen französischen Künstlern in Kontakt, Edgar Degas, Auguste Rodin und Eugène Carrière gehörten bald zu seinem Bekanntenkreis. Schleppend verlief allerdings der Aufbau eines Netzwerks von Händlern und aufgeschlossenen Sammlern. Immerhin gelang es ihm, wichtige Persönlichkeiten wie Henri Rouart (der intensiv die Werke Degas’ sammelte) kennen zu lernen und von diesem sogar einen Porträtauftrag zu erhalten. Später diente Rouarts Schwiegersohn als Modell für den Bookmaker. Außerdem ließ der Arzt und Sammler Dr. Louis-Sylvain Noblet die Büste seiner Frau von Rosso modellieren. Noblet erwarb zudem die gipserne Monumentalgruppe Paris la nuit (Impression de Boulevard) – die er leider so unsachgemäß in seinem Garten in Troyes aufstellte, dass sie durch die Witterung zerstört wurde. Bekannt ist uns das Werk nur durch eine Fotografie, die 1898 im Atelier des Künstlers entstand. Öffentlich zu sehen waren Rossos Arbeiten in den 1890er-Jahren aber lediglich auf zwei kleineren Gruppenausstellungen.
Rossos Aktionsradius blieb demnach in den ersten zehn Pariser Jahren beschränkt. Die Ursachen dafür waren komplex. Üblicherweise gab es zwei Wege, um als Neuling in der Kunstwelt der Metropole Fuß zu fassen. Entweder konnte man sich – vereinfacht ausgedrückt – bedingungslos an die Pariser Verhältnisse anpassen, um stilistisch und thematisch den Erwartungen des Marktes zu entsprechen. Oder aber man konnte seine „fremden“ und damit exotisch anmutenden Wurzeln explizit thematisieren. Den letzteren Weg hatten einige von Rossos Landsleuten durchaus erfolgreich beschritten. Giovanni Boldini und Federico Zandomeneghi (ebenfalls in unserer Ausstellung EN PASSANT vertreten) beispielsweise bedienten mit ihren Werken die teils stereotypen Vorstellungen von Italien und fanden mit dieser Strategie in etablierten Pariser Händlern wie Adolphe Goupil wichtige Fürsprecher. Ihre italienische Enklave bezeichneten sie spöttisch als P.P.P.P.P.P. – Per Patria Prima, Per Polenta Poi, zu Deutsch „Zuerst für das Vaterland, dann für die Polenta“.
Rosso hingegen wählte einen dritten Weg. Die Kunstwissenschaftlerin Sharon Hecker formulierte in ihrer Rosso-Monografie 2017 griffig, er habe sich in seiner Pariser Anfangszeit eine „kosmopolitische Identität als Außenseiter“ geschaffen. Denn in politischer wie auch künstlerischer Hinsicht war er darauf bedacht, seinen eigenen Vorstellungen zu folgen. Der Nationalismus entsprach Rossos politischen Vorstellungen keinesfalls. Er bezeichnete sich vielmehr als „europäischen Anarchisten“. Und in Bezug auf seine Kunst war er zu keinen Kompromissen bereit.
Erst mit der Pariser Weltausstellung 1900 schaffte Rosso es auf internationales Parkett. Insbesondere die holländische Sammlerin Etha Fles verhalf ihm zu Bekanntheit.
Mit 44 Jahren erlebte Rosso endlich seine ersten Einzelausstellungen in Berlin und Leipzig. Seinen künstlerischen Ansprüchen blieb er aber treu. Die Worte, in denen er 1890 gegenüber Cameroni das eigenständige Gießen seiner Skulpturen verteidigte, klingen wie eine Grundsatzerklärung: „Ich will nicht, dass andere aus meinen Sachen [ihre] Kreationen machen. Ob gut oder schlecht: ich will mein eigenes Ding.“
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