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Die Erforschung des Ich

Das größte Geheimnis der Welt sei das Ich, war Max Beckmann überzeugt. Ein Kabinett zeigt nun, wie KünstlerInnen der Moderne es in Selbstporträts erforschten – und dabei nicht nur um sich selbst kreisten.

Hier ein impressionistischer, dort ein expressionistischer Pinselstrich, ein deformierter Körper neben einer realistischen Darstellung, Lebensgröße versus herangezoomtes Profil. Neun Selbstbildnisse mit einem gemeinsamen Nenner: Sie entstanden allesamt im politisch unruhigen frühen 20. Jahrhundert. Eine Kabinettschau in der Sammlung Kunst der Moderne versammelt nun Gemälde, Fotografien und Skulpturen dieser traditionellen Bildgattung und zeigt Tendenzen auf, mit denen die Künstlerinnen und Künstler unmittelbar auf ihr politisches und privates Umfeld reagierten.

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Ausstellungsansicht „Die Erforschung des Ich“

Ich fühle, also bin ich?

In einer Zeit, in der Weltkriege und deren katastrophale Folgen den Alltag bestimmten, verschob sich der Fokus vieler Künstlerinnen und Künstler auf ihre eigene Gefühlswelt. Ihren Werken sieht man die allgemeine gesellschaftliche Unsicherheit an. Vor allem die vielen Selbstbildnisse dokumentieren persönliche und existenzielle Verluste. Zumeist unter Verzicht auf bekannte Attribute, die den Künstlerberuf repräsentieren, rückte die individuelle Darstellung der Person in den Vordergrund. Die Hintergründe bleiben meist einfarbig, der individuelle Stil tritt umso stärker hervor.

Das eigene Andenken

Ottilie Roederstein schuf zeitlebens unzählige Bildnisse ihrer selbst. Durch Auftragsarbeiten hatte sie schon früh finanzielle Unabhängigkeit erlangt und lebte offen in einer lesbischen Beziehung – ein unkonventioneller Lebensstil für eine Frau um die Jahrhundertwende. In einem ihrer letzten Porträts, zeigt sie sich noch einmal selbstbewusst und demonstriert ihren autonomen Lebensstil. Vor graubraunem Hintergrund malt sie sich fast lebensgroß, in maskuliner Kleidung. Keine Spur von ihrer damaligen Altersschwäche und Niedergeschlagenheit über die politischen Verhältnisse in den 30er-Jahren. Die Schlüssel in ihrer Hand symbolisieren vermutlich den inneren Abschluss ihres Lebenswerks. Roederstein schickte engen Freunden Kopien des Gemäldes als Andenken.

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Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit Schlüsseln, 1936, Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum

Auch Otto Dix war sich seiner Vergänglichkeit bewusst: „Alter ist scheiße! Wenn du so zusammenbröselst, ist das entwürdigend“.  Über hundert Selbstbildnisse hat der Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit hinterlassen. Auf einem hat er nicht nur sich selbst festgehalten: Tief bewegt von der Geburt seines Sohnes Ursus verewigte er – in ironischer Brechung mittelalterlicher Darstellungen der Heiligen Familie – seine eigene. Der Neugeborene liegt im Schoß der Mutter Martha, Tochter Nelly reicht ihm von hinten eine Nelke. Sich selbst zeigt der Maler grinsend im Profil, dem Kind zugewandt. Das klassische, in der Regel idealisierte Familienporträt überzeichnet Dix bis ins Groteske.

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Otto Dix, Die Familie des Künstlers, 1927, Öl auf Holz, Städel Museum, Frankfurt am Main © VG Bild-Kunst Bonn 2017, Foto: Städel Museum

Trauer und Hilflosigkeit

Ein besonderes Ensemble stellen zwei Skulpturen Käthe Kollwitz´ und Ernst Barlachs dar. Beide waren persönlich und beruflich von der Nazidiktatur betroffen. In seinem Selbstbildnis Zweifler dokumentiert Barlach die Bedrängnis und Hoffnungslosigkeit seiner letzten Lebensphase, in der er besonders unter der Diffamierung und seinem Ausstellungsverbot litt. Als er 1938 verstarb, veranlasste dies seine enge Freundin Kollwitz zu ihrem Relief Klage. Ihre Hände umfassen das eigene Gesicht, eine Geste der Verzweiflung und Ohnmacht gegenüber dem Regime.

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Ausstellungsansicht mit Ernst Barlach, Der Zweifler, 1931, Bronze (links) und Käthe Kollwitz, Die Klage, 1938-1940, Bronze, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum

Stilsuche

Helmut Kolle erforschte sein Selbst über eine entfremdete Darstellung: Die naturgetreue Wiedergabe weicht zugunsten einer modernen, avantgardistischen Malerei. Pastose Farbflächen bilden sein Gesicht und den Körper. In der Darstellung wirkt der Künstler maskiert, destabilisiert und sensibel. Ein Jahr nach der Entstehung des Bildes erlag Kolle einem Herzleiden.

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Helmut Kolle, Selbstbildnis, 1930, Öl auf Leinwand, 81,0 x 65 cm, Städel Museum, Frankfurt am Mai, Foto: Städel Museum

Das frühste Selbstbildnis im Kabinett stammt von Max Beckmann. Jahrzehnte nach dessen Entstehung, in seiner Rede über meine Malerei von 1938, formulierte seinen künstlerischen Antrieb: „Da wir immer noch nicht genau wissen, was nun eigentlich dieses „Ich“ ist, muss alles getan werden, um das „Ich“ immer gründlicher und tiefer zu erkennen. – Denn das „Ich“ ist das größte und verschleiertste Geheimnis der Welt.“ Ein Geheimnis, das es bis heute zu lüften gilt.

 

Ausstellungsansicht „Die Erforschung des Ich“

Abbildung im Header: Max Beckmann, Selbstbildnis, 1905, Städel Museum, © VG Bild-Kunst Bonn 2017, Foto: Städel Museum


Maureen Ogrocki, Mitarbeiterin der Abteilung Kunst der Moderne, kuratierte  die Kabinettausstellung gemeinsam mit Victoria Hilsberg, derzeit Praktikantin am Städel.

Die Kabinettschau „Die Erforschung des Ich“ ist zurzeit in der Sammlung Kunst der Moderne zu sehen.

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