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Warum ein Historiengemälde in der Sammlung Gegenwartskunst hängt

Eine besondere Konstellation im „Dialog der Meisterwerke“: Die 1859/60 entstandene Kopie von Géricaults monumentalem Historienbild „Das Floß der Medusa“ (1819) trifft auf ein 2002 entstandenes Triptychon aus Dierk Schmidts Serie „SIEV-X. Zu einem Fall verschärfter Flüchtlingspolitik“.

Alexander Winczek — 11. Dezember 2015
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Blick in die Ausstellungshalle der Gegenwartskunst: Pierre-Désiré Guillement und Étienne-Antoine-Eugène Ronjat; Das Floß der Medusa, 1859/60; Kopie nach dem Gemälde von Théodore Géricault; Öl auf Leinwand, 493 cm x 717 cm; Musée de Picardie, Amiens. Foto: Städel Museum

„Das Floß der Medusa“

Am 2. Juli 1816 sank das Flaggschiff Meduse auf dem Weg von Paris in den Senegal. Von der 400 Mann starken Besatzung fanden bloß die Offiziere und der Kapitän Platz auf dem Rettungsboot. Für die übrigen 150 Seeleute wurde ein manövrierunfähiges Floß gezimmert und dem Meer und sich selbst überlassen. Der Kapitän und die Offiziere unternahmen auch nach ihrer sicheren Rückkehr und Ankunft in Paris wenig, um ihre Besatzung zu retten. Nach 13-tägiger Irrfahrt auf offenem Meer überlebten nur zehn der 150 Seeleute, die zufällig von einem Versorgungsschiff gerettet wurden.

Das drei Jahre später entstandene, monumentale Gemälde „Das Floß der Medusa“ des französischen Malers Théodore Géricaults (1791–1824) sorgte 1819 auf dem Pariser Herbstsalon für Empörung und Aufsehen. Zu erschütternd und aufrüttelnd war der Skandal, der erst durch Géricaults Darstellung öffentlich wurde. Mithilfe des Formats des Historiengemäldes, eigentlich der Ehrung von König, Kirche und Regierung vorbehalten, übte der Maler hier Kritik an ebenjenen, indem er dessen  unmoralisches Verhalten anprangerte. Vor allem die realistische Darstellungsweise, mit der Géricault die leidenden Körper ausführte, war für das zeitgenössische Publikum neu. Um diesen realistischen Effekt zu erzielen, studierte der Künstler über zwei Jahre hinweg die Physiognomie und Farbigkeit toter Körper im Leichenschauhaus. Der Betrachter wird – gestern wie heute – körperlich und emotional in die Szene hineingezogen.

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Dierk Schmidt (*1965); Xenophobe-Shipwreck Scene, Dedicated to the 353 Drowned Asylum Seekers Died on the Indian Ocean, on the morning of October 19. (Xenophob - Schiffsbruchszene, gewidmet 353 ertrunkenen Asylsuchenden im indischen Ozean, 19. Oktober 2001, am Morgen); Öl auf Acryl auf PVC-Folie, 177 x 229,6 cm. Aus dem Zyklus: SIEV-X. Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik. 19-teilig, 2001/02; Städel Museum, Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.; © VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Foto: Städel Museum – Artothek

SIEV-X „Shipwreck“

Wie Géricault will auch der deutsche Gegenwartskünstler Dierk Schmidt (*1965) mit seiner insgesamt 19-teiligen, 2002 entstandenen Serie einen Schiffbruch als aktuellen politischen Skandal aufdecken und ihm ein Bild geben: der Titel des Werks „SIEV-X“ ist die Abkürzung für „Suspected Illegal Entry Vessel X“ – eine Bezeichnung, die der australische Grenzschutz einem Flüchtlingsboot gab, das im Oktober 2001 vor der indonesischen Küste sank. Dabei ertranken 335 Menschen, nur 44 überlebten. Schmidt erfuhr von dem Unglück allein durch eine kleinere Notiz in einer deutschen Tageszeitung. Die mediale Unterrepräsentation dieses tragischen Ereignisses veranlasste ihn zu investigativer Recherchearbeit, die – trotz oder gerade wegen der politischen Brisanz – von großen Leerstellen und wenig zugänglichen Informationen geprägt war. Schmidt entschloss sich deshalb dazu, eine „sehr fragile Konstruktion zu machen“ und erläutert: „ein fotorealistisches Kunstwerk wäre eine falsche Behauptung“.

https://www.youtube.com/watch?v=MV-zPXzHrv0

Die Gegenwart der Malerei

Das explizite Statement Schmidts über die Verantwortung und Möglichkeit der eigenen Malerei, schlägt sich formal auf komplexe und vielschichtige Weise in seiner Arbeit nieder. Die zentrale Arbeit des in der derzeitigen Ausstellung „Dialog der Meisterwerke“ gezeigten Triptychons, „Untitled“, zeigt in Öl auf Leinwand die historische Hängung im Pariser Herbstsalon und die aktuelle Präsentation von Géricaults Floß im Louvre: Beim Pariser Herbstsalon hing Géricaults Bild in einer Höhe, die es unmöglich machte, die grausamen Details seiner Darstellungen zu erkennen. Der Bruch mit der Tradition des Historienbildes war, vertraut man der Darstellung Schmidts, für das Publikum Grund genug, empört den Hut zu ziehen. Gegenwärtig hängt Géricaults Floß neben dem 1830 entstanden Werk „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix – eine Lobpreisung auf den französischen Staat, die nicht nur thematisch den offiziellen Erwartungen an ein Historienbild entsprach. Auch die Form einer ästhetisierten Allegorie, von den Idealen der Schönheit und Harmonie bestimmt, traf ganz den Geschmack des zeitgenössischen Publikums im Pariser Salon. Beide Werke nebeneinander eröffnen den historischen Spannungsraum, in dem Dierk Schmidt seine eigene Arbeit verortet.

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Dierk Schmidt (*1965); Untitled (Louvre) 2001/02; Mittelteil eines Triptychons; Öl auf Leinwand, 54 x 73 cm. Aus dem Zyklus: SIEV-X. Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik. 19-teilig, 2001/02; Städel Museum, erworben 2008 aus Mitteln des Städelkomitees 21. Jahrhundert, Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.; © VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Foto: Städel Museum – Artothek

„Freiheit“ im gegenwärtigen Kapitalismus

Auch Schmidt verwendet indirekte Bilder und Symbole um Sachverhalte abzubilden, die durch Worte schwer artikulierbar sind. So im letzten Teil des Triptychons mit dem Titel „Freedom“: Angelehnt an einen Werbefilm der Firma Nike zeigt es den brasilianischen Fußballstar Ronaldo spielerisch in den exterritorialen Bereich eines Flughafens dribbeln. Die Freiheit des Fußballstars kontrastiert auf frappierende Weise mit dem Unglück der „Boat-People“ vor der Küste Australiens. Ronaldo verdankt seine Bewegungsfreiheit aber keiner Revolution, wie in Delacroixs Bild, sondern einem medialen Starkult, der ihm rechtliche Privilegien einräumt. Das Recht eigentlich auf ihrer Seite, jedoch vergessen scheinen die Flüchtlinge, dessen Abbilder und Namen uns in Schmidts Werk als Fragmente begegnen und in ihm erhalten bleiben.

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Dierk Schmidt (*1965); Freedom. Aus dem Zyklus: SIEV-X. Zu einem Fall von verschärfter Flüchtingspolitik (19-teilig); Öl auf PVC-Folie, 99,3 x 126 cm; 2001/02; Aus dem Zyklus: SIEV-X. Zu einem Fall von verschärfter Flüchtlingspolitik. 19-teilig, 2001/02; Städel Museum, Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.; © VG Bild-Kunst, Bonn 2015; Foto: Städel Museum – Artothek

Den Ankauf der Arbeit verdankt das Museum übrigens dem Städelkomitee 21. Jahrhundert. Bei der Diskussion über die Arbeit überzeugte die Mitglieder, wie eindrucksvoll und vielschichtig Schmidt die Gattung des Historiengemäldes thematisch aufgreift und ästhetisch verarbeitet. Schmidts malerische Reflektion eines Historienbildes ist somit eine bedeutende inhaltliche Erweiterung, nicht nur für den Sammlungsbereich „Kunst nach 1945“, sondern für die gesamte Sammlung des Städel.


Der Autor Alexander Winczek ist als studentische Aushilfe in der Abteilung Gegenwartskunst des Städel tätig.

Die zeitgenössische Kopie von Géricaults monumentalem Historienbild „ Das Floß der Medusa“ sowie das Triptychon aus Dierk Schmidts 19-teiliger Serie „ SIEV-X. Zu einem Fall verschärfter Flüchtlingspolitik“ sind gemeinsam noch bis zum Ende der Ausstellung Dialog der Meisterwerke. Hoher Besuch zum Jubiläum am 24. Januar 2016 zu sehen.

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