Ungewöhnliche Blickwinkel, steile Auf- und Untersichten, Detailaufnahmen: Die Fotografie der Weimarer Republik zeugt von viel Experimentierfreude. Wie reagierten Zeitgenossen auf die neue Technik?
Mit dem Aufkommen der Kleinbildkamera in den 1920er Jahren gewann die Fotografie eine nie dagewesene Entfaltungsfreiheit. Sie eröffnete einen schnelleren, dynamischeren Blick auf die Welt aus ungewohnten Perspektiven. Eine nüchterne Formwiedergabe wurde zum ästhetischen Ausdrucksmittel der sich verändernden Lebensumstände. Mit seiner unkomplizierten Produktionsweise stand das Medium beispielhaft für die von Schnelligkeit geprägte Lebenswelt des modernen Menschen.
Als Schlagwort für diese neue Ästhetik bürgerte sich der Begriff „Neu Sehen“ ein. Dieser bezog sich sowohl auf die veränderte Arbeit der Fotografinnen und Fotografen als auch auf die zu schulende Wahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter. Doch was genau ist mit einem neuen Sehen gemeint?
Bereits die damaligen Zeitgenossen hatten Schwierigkeiten, die neuen optischen Eindrücke zu benennen. Der Schriftsteller Per Schwenzen sah das „Neue Sehen“ überhaupt als Voraussetzung dafür, um als Fotograf künstlerisch wirken zu können und versuchte sich in einem gleichnamigen Aufsatz 1929 an einer Beschreibung:
„Unser Auge ging auf die Wanderung mit der Linse des Objektivs. Einfach aus uns heraus. […] Und sah, daß diese Welt so vielfältig, so spielerisch in den Phantasien des Objekts ist wie nur je eine subjektive Phantasie es war. Jede Form, jedes tägliche Bild, Haus, Brücke und Turm fliehen aus den Grenzen gewohnter Einordnung. […] Tägliche Gegenstände […] enthüllen ungeahnte Verbindungen mit Licht und Raum und brechen in dein Erstaunen ein.“
Schwenzen beschreibt, wie die Fotografie zu einer reflektierten Wahrnehmung führe. Der Blick durch den Sucher der Kamera wirke wie eine Sehhilfe, die Gewohntes buchstäblich in einem neuen Licht und aus bislang unentdeckten Blickwinkeln erscheinen lasse.
Seinen Artikel bebilderte er gleich mit einer Reihe unterschiedlicher Fotografien, die sich keinem eindeutigen Stil zuordnen lassen. Von Wasserspiegelungen, Wolkenformationen bis hin zu Strukturformen konnte alles zum Gegenstand der Inszenierung werden.
Gleichzeitig vermochte die Fotografie bildnerisch festzuhalten, was bisher dem menschlichen Auge verborgen geblieben war: Röntgenaufnahmen gewährten einen Blick in den Körper, sogar in den einer schwangeren Frau – heute aus Sicht der medizinischen Ethik undenkbar.
Und auch mit der Makro- und Mikrofotografie erschloss sich eine völlig neue Welt.
Damit verbunden war die Idee, mit der Kamera das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu entdecken und festzuhalten. Und sei es die Rückansicht von Zebras im Berliner Zoo. Als studierter Maschinenbauingenieur wandte sich Friedrich Seidenstücker autodidaktisch der Fotografie zu und arbeitete ab 1930 als freier Bildberichterstatter für den Verlag Ullstein.
Seidenstücker wählte den Ausschnitt so, dass die Tiere ähnlich einem Spiegelbild nebeneinanderstehen. Das Muster des Fells wiederholt sich in abgewandelter Form in den Gittern im Hintergrund. Die humorvolle, wohlüberlegte Komposition dokumentiert Seidenstückers Beobachtungsfreude und fotografisches Können.
Durch verbesserte technische Entwicklungen sowie die Fortschritte in der Presse- und Reklamefotografie erlebte die Fotografie zum Ende der Weimarer Republik eine Hochkonjunktur. Mit der zunehmenden Integration von Bildern in illustrierten Beilagen fand eine intensive Auseinandersetzung statt, die erstmals die eigenständige Bildleistung der Fotografen in den Vordergrund stellte. Und mit dem erhöhten Bedarf nach bildlicher Unterhaltung veränderten sich auch die Ausdrucksmittel. Kurzum: Die Etablierung des Mediums ging mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen einher – und umgekehrt.
fasste der Frankfurter Soziologe Ludwig Neundörfer in der Kölnischen Zeitung 1929 zusammen. Dass sich Neundörfer, der sonst eher über Themen der Sozialfürsorge schrieb, ausgerechnet mit der Fotografie beschäftigte, zeigt deren hohen gesellschaftlichen Stellenwert. In der Aussage, die Bevölkerung durch Fotografien mit einfacher, aber wohl konzipierter Bildnachricht anzusprechen, ist ihre Funktion als Gebrauchsmittel klar definiert. Gleichwohl erkennt er das künstlerische Potenzial des Mediums: „Bleibt sich die Photographie ihrer Aufgabe bewußt, durch Reportage, Reklame und sachliche Gegenstandsaufnahmen zu wirken, bleiben die Photographen Berufsleute, aber mit starkem Gestalterwillen, so ist es vielleicht über die Photographie wieder möglich, zu einer Bildkunst für die ganze Breite des Volkes zu kommen“.
Der Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy ahnte bereits 1925, dass die Fotografie aus dem Leben so schnell nicht mehr wegzudenken sei und „der fotografie-unkundige […] der analfabet der zukunft“ werde.
Deswegen war es umso wichtiger, Fotografien wie Buchstaben lesen und deuten zu können. In der Zeit des Nationalsozialismus kam es oftmals zu einer Vermischung von alltäglichen und politischen Themen. Das traf insbesondere auf die Olympischen Spiele in Berlin 1936 zu. Bei der bildlichen Vermittlung suchte man den „schönen Schein“ zu wahren und stellte Deutschland als progressive und führende Nation dar. In der Folge bedienten sich Fotografen wie etwa Lothar Rübelt vorwiegend einer modernen Bildsprache, um die ansonsten eher nüchterne Bildberichterstattung unterhaltsamer zu gestalten.
Das vermeintliche Wahrheitsversprechen der Fotografie galt und gilt es immer wieder neu zu hinterfragen, wie der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky 1926 im Heft „Uhu“ feststellte: „Und weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend Worte, so weiß jeder Propagandist die Wirkung des Tendenzbildes zu schätzen:
Auch heute haben die Worte nichts an ihrer Aktualität verloren. Der Blick in die Vergangenheit ist damit auch ein Blick in das Hier und Jetzt, in die Realität einer durch Facebook und Instagram dominierten Bilderwelt, in der wir täglich zu einem neuen und auch kritischen Sehen herausgefordert werden.
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