Navigation menu

„…weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend Worte“

Ungewöhnliche Blickwinkel, steile Auf- und Untersichten, Detailaufnahmen: Die Fotografie der Weimarer Republik zeugt von viel Experimentierfreude. Wie reagierten Zeitgenossen auf die neue Technik?

Kristina Lemke — 30. Juni 2021

Mit dem Aufkommen der Kleinbildkamera in den 1920er Jahren gewann die Fotografie eine nie dagewesene Entfaltungsfreiheit. Sie eröffnete einen schnelleren, dynamischeren Blick auf die Welt aus ungewohnten Perspektiven. Eine nüchterne Formwiedergabe wurde zum ästhetischen Ausdrucksmittel der sich verändernden Lebensumstände. Mit seiner unkomplizierten Produktionsweise stand das Medium beispielhaft für die von Schnelligkeit geprägte Lebenswelt des modernen Menschen.

Per Schwenzen, Neu Sehen, in: Die Woche, Heft 11, 1929, S. 307–309, hier S. 307, © Städel Museum, Frankfurt am Main

Per Schwenzen, Neu Sehen, in: Die Woche, Heft 11, 1929, S. 307–309, hier S. 307 © Städel Museum, Frankfurt am Main

Als Schlagwort für diese neue Ästhetik bürgerte sich der Begriff „Neu Sehen“ ein. Dieser bezog sich sowohl auf die veränderte Arbeit der Fotografinnen und Fotografen als auch auf die zu schulende Wahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter. Doch was genau ist mit einem neuen Sehen gemeint?

Die „Grenzen gewohnter Einordnung“

Bereits die damaligen Zeitgenossen hatten Schwierigkeiten, die neuen optischen Eindrücke zu benennen. Der Schriftsteller Per Schwenzen sah das „Neue Sehen“ überhaupt als Voraussetzung dafür, um als Fotograf künstlerisch wirken zu können und versuchte sich in einem gleichnamigen Aufsatz 1929 an einer Beschreibung:

„Unser Auge ging auf die Wanderung mit der Linse des Objektivs. Einfach aus uns heraus. […] Und sah, daß diese Welt so vielfältig, so spielerisch in den Phantasien des Objekts ist wie nur je eine subjektive Phantasie es war. Jede Form, jedes tägliche Bild, Haus, Brücke und Turm fliehen aus den Grenzen gewohnter Einordnung. […] Tägliche Gegenstände […] enthüllen ungeahnte Verbindungen mit Licht und Raum und brechen in dein Erstaunen ein.“

Per Schwenzen, Neu Sehen, Die Woche, Heft 11, 1929, S. 307–309, hier S. 308f., © Städel Museum, Frankfurt am Main

Per Schwenzen, Neu Sehen, in: Die Woche, Heft 11, 1929, S. 307–309, hier S. 308f. © Städel Museum, Frankfurt am Main

Schwenzen beschreibt, wie die Fotografie zu einer reflektierten Wahrnehmung führe. Der Blick durch den Sucher der Kamera wirke wie eine Sehhilfe, die Gewohntes buchstäblich in einem neuen Licht und aus bislang unentdeckten Blickwinkeln erscheinen lasse.

Seinen Artikel bebilderte er gleich mit einer Reihe unterschiedlicher Fotografien, die sich keinem eindeutigen Stil zuordnen lassen. Von Wasserspiegelungen, Wolkenformationen bis hin zu Strukturformen konnte alles zum Gegenstand der Inszenierung werden.

Kurt Warnekros, Tafel 3, Steisslage, in Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, Courtesy Skrein Photo Collection, © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 3, Steisslage (Seitenaufnahme), in: Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, 6 Silbergelatine-Abzüge auf Karton, Courtesy Skrein Photo Collection © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 15, Rechte Querlage, in Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, Courtesy Skrein Photo Collection, © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 15, Rechte dorsosuperiore Querlage, in: Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, 6 Silbergelatine-Abzüge auf Karton, Courtesy Skrein Photo Collection © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 26, Seitenaufnahme, in Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, Courtesy Skrein Photo Collection, © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 26, Seitenaufnahme, in: Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, 6 Silbergelatine-Abzüge auf Karton, Courtesy Skrein Photo Collection © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 5, Rechte Steisslage, in Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, Courtesy Skrein Photo Collection, © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 5, Rechte Steisslage, Eröffnungsperiode, in: Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, 6 Silbergelatine-Abzüge auf Karton, Courtesy Skrein Photo Collection © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 9, Rechte Steisslage, Austreibungsperiode, in: Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, 6 Silbergelatine-Abzüge auf Karton, Courtesy Skrein Photo Collection © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 3, Steisslage, in Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, Courtesy Skrein Photo Collection, © Städel Museum, Frankfurt am Main

Kurt Warnekros, Tafel 27, Allgemein gleichmäßig verengtes Becken, in: Schwangerschaft und Geburt im Röntgenbilde, 1917–21, 6 Silbergelatine-Abzüge auf Karton, Courtesy Skrein Photo Collection © Städel Museum, Frankfurt am Main

Gleichzeitig vermochte die Fotografie bildnerisch festzuhalten, was bisher dem menschlichen Auge verborgen geblieben war: Röntgenaufnahmen gewährten einen Blick in den Körper, sogar in den einer schwangeren Frau – heute aus Sicht der medizinischen Ethik undenkbar.

Und auch mit der Makro- und Mikrofotografie erschloss sich eine völlig neue Welt.

Fred Koch;   zugeschrieben, Folkwang-Archiv, Löwenzahn, Pusteblume, Taraxacum officinalis, 1933 – 1935

Fred Koch, Löwenzahn, Pusteblume, Taraxacum officinalis, 1933–35, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, gemeinsames Eigentum mit dem Städelschen Museums-Verein e.V. © Städel Museum, Frankfurt am Main

Das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen

Damit verbunden war die Idee, mit der Kamera das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu entdecken und festzuhalten. Und sei es die Rückansicht von Zebras im Berliner Zoo. Als studierter Maschinenbauingenieur wandte sich Friedrich Seidenstücker autodidaktisch der Fotografie zu und arbeitete ab 1930 als freier Bildberichterstatter für den Verlag Ullstein.

Friedrich Seidenstücker, Ohne Titel (Zoologischer Garten Berlin, zwei Zebras von hinten), 1935

Friedrich Seidenstücker, Ohne Titel (Zoologischer Garten Berlin, zwei Zebras von hinten), 1935, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, gemeinsames Eigentum mit dem Städelschen Museums-Verein e. V. © Friedrich Seidenstücker (Nachlass unbekannt)

Seidenstücker wählte den Ausschnitt so, dass die Tiere ähnlich einem Spiegelbild nebeneinanderstehen. Das Muster des Fells wiederholt sich in abgewandelter Form in den Gittern im Hintergrund. Die humorvolle, wohlüberlegte Komposition dokumentiert Seidenstückers Beobachtungsfreude und fotografisches Können.

H. K. Frenzel Friedrich Seidenstücker, in Gebrauchsgraphik, Heft 1, 1937, S. 42—49, hier S. 44f.

Fotografien erobern den Alltag

Durch verbesserte technische Entwicklungen sowie die Fortschritte in der Presse- und Reklamefotografie erlebte die Fotografie zum Ende der Weimarer Republik eine Hochkonjunktur. Mit der zunehmenden Integration von Bildern in illustrierten Beilagen fand eine intensive Auseinandersetzung statt, die erstmals die eigenständige Bildleistung der Fotografen in den Vordergrund stellte. Und mit dem erhöhten Bedarf nach bildlicher Unterhaltung veränderten sich auch die Ausdrucksmittel. Kurzum: Die Etablierung des Mediums ging mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen einher – und umgekehrt.

Die Bedeutung der modernen Photographie liegt darin, daß sie mit Hilfe technischer Mittel unserem Auge die Formwerte erschließt, die uns alltäglich umgeben,

fasste der Frankfurter Soziologe Ludwig Neundörfer in der Kölnischen Zeitung 1929 zusammen. Dass sich Neundörfer, der sonst eher über Themen der Sozialfürsorge schrieb, ausgerechnet mit der Fotografie beschäftigte, zeigt deren hohen gesellschaftlichen Stellenwert. In der Aussage, die Bevölkerung durch Fotografien mit einfacher, aber wohl konzipierter Bildnachricht anzusprechen, ist ihre Funktion als Gebrauchsmittel klar definiert. Gleichwohl erkennt er das künstlerische Potenzial des Mediums: „Bleibt sich die Photographie ihrer Aufgabe bewußt, durch Reportage, Reklame und sachliche Gegenstandsaufnahmen zu wirken, bleiben die Photographen Berufsleute, aber mit starkem Gestalterwillen, so ist es vielleicht über die Photographie wieder möglich, zu einer Bildkunst für die ganze Breite des Volkes zu kommen“.

Fotografien richtig lesen und deuten

Der Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy ahnte bereits 1925, dass die Fotografie aus dem Leben so schnell nicht mehr wegzudenken sei und „der fotografie-unkundige […] der analfabet der zukunft“ werde.

Deswegen war es umso wichtiger, Fotografien wie Buchstaben lesen und deuten zu können. In der Zeit des Nationalsozialismus kam es oftmals zu einer Vermischung von alltäglichen und politischen Themen. Das traf insbesondere auf die Olympischen Spiele in Berlin 1936 zu. Bei der bildlichen Vermittlung suchte man den „schönen Schein“ zu wahren und stellte Deutschland als progressive und führende Nation dar. In der Folge bedienten sich Fotografen wie etwa Lothar Rübelt vorwiegend einer modernen Bildsprache, um die ansonsten eher nüchterne Bildberichterstattung unterhaltsamer zu gestalten.

Lothar Rübelt, Gerda Daumerlang, Kunstspringerin, Olympia,2.Teil: Fest der Schönheit, 1936, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, Courtesy Skrein Photo Collection, © Lothar Rübelt (Nachlass unbekannt)

Lothar Rübelt, Gerda Daumerlang, Kunstspringerin, Olympia, 2.Teil: Fest der Schönheit, 1936, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, Courtesy Skrein Photo Collection © Lothar Rübelt (Nachlass unbekannt)

Das vermeintliche Wahrheitsversprechen der Fotografie galt und gilt es immer wieder neu zu hinterfragen, wie der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky 1926 im Heft „Uhu“ feststellte: „Und weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend Worte, so weiß jeder Propagandist die Wirkung des Tendenzbildes zu schätzen:

Von der Reklame bis zum politischen Plakat schlägt das Bild zu, boxt, pfeift schießt in die Herzen und sagt, wenn’s gut ausgewählt ist, eine neue Wahrheit und immer nur eine.

Auch heute haben die Worte nichts an ihrer Aktualität verloren. Der Blick in die Vergangenheit ist damit auch ein Blick in das Hier und Jetzt, in die Realität einer durch Facebook und Instagram dominierten Bilderwelt, in der wir täglich zu einem neuen und auch kritischen Sehen herausgefordert werden.


Kristina Lemke ist seit Juni 2021 Sammlungsleiterin für die Fotografie von der Moderne bis zur Gegenwart und hat die Ausstellung „Neu Sehen. Fotografie der 20er und 30er Jahre“ kuratiert.

Die Ausstellung „Neu Sehen. Fotografie der 20er und 30er Jahre“ zeigt in sieben Kapiteln die verschiedenen Gebrauchskontexte der Fotografie in der Zwischenkriegszeit – bis 24. Oktober 2021.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Jörg Sasse, 7127, 2003, DZ BANK Kunstsammlung im Städel Museum, Städel Museum, Frankfurt am Main © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
    Fotografie wie Malerei

    Zwischen Wirklichkeit und Manipulation

    Malerei entspringt der Vorstellungskraft, Fotografie zeigt die wirkliche Welt. Tatsächlich? Die Grenzen verschwimmen. Können wir der Fotografie trauen oder lassen wir uns zu leicht täuschen?

  • Horst P. Horst, New York, Edith Sitwell, 1948, Silbergelatine-Abzug, erworben 2015 als Schenkung von Manfred Heiting, Städel Museum, Frankfurt am Main
    Fotografie-Sammler Manfred Heiting

    „Man muss gelernt haben zu sehen“

    Manfred Heiting hat eine der wertvollsten Foto- und Fotobuch-Sammlungen aufgebaut – Teile davon wurden nun von den verheerenden Waldbränden in den USA zerstört. Nur wenige Wochen zuvor hatten wir mit ihm über seine Leidenschaft gesprochen.

  • Kristina Lemke im Depot für Fotografie des Städel Museums
    Mitarbeiterinnenporträt

    „Fotografie betrachten ist wie Spazierengehen“

    Niemand kennt den historischen Bestand der Fotografien am Städel so gut wie Kristina Lemke – wie sie die Sammlung weiterentwickelt und warum dabei immer auch die Rückseite einen Blick wert ist.

  • Edward Steichen: Modefoto, 1937, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V., © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
    Modefotografie

    „Machen Sie aus der Vogue einen Louvre“

    Kunst oder Kommerz? Modefotografie bewegt sich zwischen den Welten von Werbung, Modemagazin und – seit wenigen Jahren – Museum. Die Grenzverschiebung begann in den 1930er-Jahren, mit Pionieren wie Edward Steichen oder Dora Maar.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Städel | Frauen

    Marie Held: Kunsthändlerin!

    Teil 5 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • Fantasie & Leidenschaft

    Eine Spurensuche

    Bei der Untersuchung von über 100 italienischen Barockzeichnungen kamen in der Graphischen Sammlung bislang verborgene Details ans Licht.

  • Städel Mixtape

    Kann man Kunst hören?

    Musikjournalistin und Moderatorin Liz Remter spricht über Ihre Arbeit und den Entstehungsprozess des Podcasts.

  • Städel | Frauen

    Künstlerinnen-Netzwerke in der Moderne

    Kuratorin Eva-Maria Höllerer verdeutlicht, wie wichtig Netzwerke für die Lebens- und Karrierewege von Künstlerinnen um 1900 waren und beleuchtet deren Unterstützungsgemeinschaften.

  • Muntean/Rosenblum

    Nicht-Orte

    Anonyme Räume, flüchtige Begegnungen: Kuratorin Svenja Grosser erklärt, was es mit Nicht-Orten auf sich hat.

  • Städel Mixtape

    #42 Albrecht Dürer - Rhinocerus (Das Rhinozeros), 1515

    Ein Kunstwerk – ein Soundtrack: Der Podcast von Städel Museum und ByteFM.

  • Alte Meister

    Sammler, Stifter, Vorbild

    Sammlungsleiter Bastian Eclercy und Jochen Sander im Interview zum neuen Stifter-Saal.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Städel Dach

    Hoch hinaus

    Die Architekten Michael Schumacher und Kai Otto sprechen über Konzept, Inspirationen und die Bedeutung des Städel Dachs für Besucher und die Stadt.

  • Gastkommentar

    Kunst und die innere Uhr mit Chronobiologe Manuel Spitschan

    Was sieht ein Chronobiologe in den Werken der Städel Sammlung?

  • Städel Digital

    Städel Universe: Von der Idee zum Game

    Im Interview gibt Antje Lindner aus dem Projektteam Einblicke in die Entstehung der hybriden Anwendung.

  • Engagement

    Die „Causa Städel“

    Was an Städels letztem Willen so besonders war und worauf man heute achten sollte, wenn man gemeinnützig vererben möchte.