Der Akt gilt in der Kunstgeschichte als „Königsdisziplin“. Hat Lotte Laserstein als Künstlerin einen anderen Blick auf jenes Motiv, an dem sich vor allem männliche Künstler seit Jahrhunderten abarbeiten?
Läuft man durch die Ausstellung „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“ begegnet man nicht nur eindrücklichen Porträts, die die Berliner Malerin von ihren Berliner Zeitgenossen geschaffen hat. Unter den Werken aus ihrer Weimarer Schaffenszeit finden sich auch viele Aktdarstellungen, sowohl Zeichnungen als auch Gemälde; neben wenigen Männern vor allem Frauen. Sie wirken ungewohnt „anders“, denkt man. Aber anders als was?
Der Akt ist eines der ältesten Genres der Kunst und gilt bis heute als eine der „Königsdisziplinen“. Aus der griechischen Antike kennt man zahlreiche muskulöse und vor allem männliche Körper. Im Mittelalter werden Aktdarstellungen nur bei religiösen Themen geduldet. Ab der Renaissance rückt dann der Mensch in den Fokus des Interesses, auch sein Körper. Das Studium des nackten menschlichen Körpers wird von nun an systematisiert und zum Schwerpunkt der akademischen Ausbildung gemacht. Doch auch weiterhin ist Nacktheit nur in religiösen, später auch bei mythologischen oder historischen Darstellungen erlaubt. Das 19. Jahrhundert lockert diese Einschränkung zunehmend auf: In der Kunst begegnen wir nackten Personen nun auch in Alltagssituationen. Eins ändert sich seit der Renaissance jedoch kaum: Der Großteil der dargestellten nackten Körper gehört Frauen.
Der weibliche Akt war seit jeher bei männlichen Künstlern beliebt, um ihre Könnerschaft zu zeigen. Bei Künstlerinnen hingegen galt das Zeichnen nach einem lebenden nackten Modell als „unschicklich“. Für männliche Künstler gehörte das Studium am Aktmodell zur akademischen Ausbildung – zu der ihre Kolleginnen lange Zeit keinen Zugang hatten. In Deutschland wurden Frauen erst ab 1919 an den Kunstakademien aufgenommen. Eine dieser ersten Frauen war Lotte Laserstein.
Für viele von Lasersteins Gemälde und Zeichnungen stand ihre Freundin Traute Rose Modell. Ihre enge Verbindung scheint sich in den Bildern widerzuspiegeln, was Spekulationen über ein intimes Verhältnis zwischen den beiden Frauen angeregt hat. Eindeutige Belege lassen sich dazu im Nachlass der Künstlerin jedoch nicht finden. In dem Gemälde In meinem Atelier (1928) zum Beispiel nimmt der nackte Körper Trautes den gesamten Vordergrund ein. Sie liegt auf einem kunstvoll drapierten weißen Laken, den Kopf von den Betrachtenden abgewandt, die Augen geschlossen. Laserstein selbst ist im weißen Malerkittel an der Staffelei zu sehen. Mit einer großen Farbpalette in der Hand scheint sie ganz ins Malen vertieft.
Trautes Pose erinnert an klassische Venusdarstellungen Alter Meister, aber auch an zeitgenössischere Darstellungen: Jacques-Émile Blanche zeigt ein Junges Mädchen nach dem Maskenball (1906), wie es sich gedankenverloren auf einem Diwan räkelt, Kleid und Maske hat sie achtlos neben sich geworfen. Wir sehen die junge Frau hier in einer intimen Situation, in der sie sich unbeobachtet fühlt. Blanche situiert die Betrachtenden hier also in die Position der ungestörten Beobachter, der Voyeure: Sie können genau hinschauen und müssen nicht befürchten, vom Blick des Mädchens „ertappt“ zu werden.
Laserstein hingegen zeigt hier keine vermeintliche Alltagsszene, in die die Betrachtenden unerlaubterweise mit ihren Blicken eindringen. Sie malt feinfühlig, vermittelt Sinnlichkeit und Nähe und unterscheidet sich in dieser Hinsicht auch von den offensiv sexuell aufgeladenen Darstellungen der Neuen Sachlichkeit, wie sie bei Otto Dix, Christian Schad oder Karl Hubbuch zu finden sind. Die Situation ist bewusst inszeniert: Traute ist ihr Modell und sie selbst ist die Malerin. Beide sind in einem Arbeitskontext zu sehen, der Nacktheit erfordert. Dennoch ist die Szene intim. Auch Traute hat den Blick von den Betrachtenden abgewendet – eher ein Ausdruck der Vertrautheit zwischen den beiden Frauen. Außerdem zeigt Laserstein Trautes Körper nicht idealisiert mit ebenmäßig glatter Haut und weiblichen Rundungen, sondern stellt durch dessen Unebenheit ihr ganzes Können als Aktmalerin unter Beweis. Sich selbst präsentiert sie als arbeitende, geschulte Malerin; ihr Modell als eigenständiges Subjekt, als ihre Freundin.
Das Bild Vor dem Spiegel (1930/31) zeigt eine ähnliche Situation: Im Vordergrund steht die nackte Rose vor einem Spiegel, dahinter sieht man Laserstein in ihre Arbeit an der Staffelei vertieft. Durch die Spiegelung gelingt es Laserstein geschickt, Trautes Körper gleichzeitig von vorne und von hinten zu zeigen. Traute steht nah vor dem Spiegel und schaut sich dabei direkt an: Die selbstbewusste junge Frau hat kein Problem mit ihrer Nacktheit, die weder vor sich selbst noch vor den Betrachtenden etwas verbergen möchte. Umgekehrt müssen wir uns auch nicht ertappt fühlen – selbst wenn Traute nur einmal leicht nach links blicken würde, um uns hinter ihrem Spiegel direkt anzusehen.
Nicht umsonst bezeichnete Laserstein in ihren Briefen die Bilder, auf denen Traute und sie zu sehen sind, auch als „unsere Bilder“. Sie weiß, dass zu einem guten Aktbildnis auch ein gutes Modell gehört – ein Subjekt mit einer eigenen Geschichte.
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