Woher kommen die Kunstwerke im Museum? Neben Max Beckmanns „Eisgang“ erinnert heute eine Gedenktafel an seine ehemaligen Besitzer. Provenienzforscherin Iris Schmeisser über das Schicksal der Frankfurter Familie.
Provenienzforscher an Museen befassen sich mit der Frage der Herkunft von Kunstwerken. Sie versuchen zu rekonstruieren, welchen Weg ein Kunstwerk vom Zeitpunkt seiner Entstehung bis zum Eintritt in die Sammlung des Museums zurückgelegt hat. Wem gehörte es im Laufe seiner Geschichte? Wann, warum und unter welchen Umständen wechselte es seine Besitzer?
Kunsthistoriker haben sich natürlich schon immer mit der Provenienz von Kunstwerken und der Geschichte von Sammlungen beschäftigt. Dass Museen jedoch systematisch, also mit gezieltem Blick auf die NS-Vergangenheit und der in dieser Zeit erfolgten Besitzerwechsel eines Kunstwerkes Provenienzforschung betreiben, geht auf eine politische Initiative zurück: die Washington Conference im Dezember 1998. Sie wurde von der amerikanischen Regierung organisiert, insgesamt 44 Staaten nahmen daran teil. Im Zentrum standen noch offene Fragen in Bezug auf Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust. Man einigte sich schließlich auf elf Richtlinien, welche den Umgang mit Kunstwerken regeln sollen, die ihren Besitzern während der NS-Zeit verfolgungsbedingt abhanden gekommen sind.
Auf der Grundlage dieser Washingtoner Prinzipien suchen öffentliche Institutionen seitdem nach belasteten oder möglicherweise belasteten Kunstwerken in ihren Beständen. Werden sie fündig, soll mit den heutigen Erben eine „gerechte und faire“ Lösung angestrebt werden. Eine solche Einigung gab es zuletzt auch bei einem der Kunstwerke des Städel Museums, Max Beckmanns Eisgang von 1923.
Beckmanns Eisgang zeigt eine Ansicht des Mainufers mit Blick auf den Eisernen Steg. Es ist ein Panorama, wie es der Künstler sah, wenn er aus seiner Wohnung trat. Der Städelsche Museums-Verein hat das Gemälde vor mehr als 25 Jahren aus Privatbesitz erworben, ohne Kenntnis seiner belasteten Vorgeschichte. Im Jahr 2014 erhielt das Städel Museum im Zuge seiner systematischen Provenienzforschung von dritter Seite Hinweise auf die belastete Provenienz des Gemäldes. Es stellte sich heraus, dass der erste Besitzer des Werkes Fritz Neuberger war, ein jüdischer Textilfabrikant aus Frankfurt. Er hatte das Gemälde über den Frankfurter Kunsthändler Peter Zingler direkt von Beckmann gekauft.
Gemeinsam mit seinem Bruder Otto und seinem Vater Ludwig war Fritz Neuberger Inhaber eines in den 1890er-Jahren gegründeten Textilunternehmens, das unter anderem lichtechte Tischdecken produzierte und diese unter der Marke Lenco vertrieb. Das 1912 erbaute Firmengebäude war damals unter dem Namen Lenco-Haus bekannt. Aus den oberen Etagen hatte man einen Blick auf den Main. Es steht noch heute im Frankfurter Osthafen.
Als der Gründer Ludwig Neuberger starb, führten seine Söhne die Firma zunächst gemeinsam weiter. Dann stieg Fritz Neuberger aus dem Unternehmen aus und gründete eine eigene Textilwarenfirma, über die nur wenig bekannt ist. In dieser Zeit des Aufbruchs – nach der Hyperinflation des Jahres 1923 – muss Neuberger das Gemälde erworben haben. Es war auch die Zeit, in der das Gemälde zum ersten Mal der Frankfurter Öffentlichkeit gezeigt wurde, in einer Ausstellung des Kunstvereins 1924.
Im Zuge der Wirtschaftskrise geriet sein Unternehmen jedoch in finanzielle Schwierigkeiten. Der Familienwohnsitz im Frankfurter Westend musste verkauft werden und Fritz Neuberger zog mit seiner Frau Hedwig und seinem Sohn Hans Ludwig in die Arndstrasse um. 1931 bot Neuberger das Gemälde dem Städel zum Kauf an. Doch dem Museum fehlten damals die Mittel. Zudem hatte der Direktor des Museums, Georg Swarzenski, der mit Beckmann befreundet war, bereits 13 Gemälde des Künstlers erworben.
Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, wurde Swarzenski aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus seinem Amt als Direktor der Städtischen Galerie entlassen. Im selben Jahr verlor auch Beckmann seine Professur an der Städelschule. Seine Werke waren unter den ersten, die bereits 1936 als „entartete Kunst“ aus der Sammlung des Museums abgezogen wurden.
Fritz Neuberger, dessen Unternehmen aufgrund der Wirtschaftskrise bereits stark geschwächt war, sah sich zunehmend antisemitischem Druck ausgesetzt. Spätestens 1938 befand sich das Ehepaar Neuberger in existenzieller wirtschaftlicher Not. Im Frühjahr stellte Fritz Neuberger einen Passantrag, der jedoch von den zuständigen Behörden „nicht befürwortet“ wurde. Ihr Plan zur Flucht scheiterte.
Das Ehepaar versuchte nun wenigstens, seinen einzigen Sohn, den damals 16-jährigen Hans Ludwig, in Sicherheit zu bringen. Im Mai 1939 gelang ihm mit dem „Kindertransport“ die Flucht nach England. Schon kurz darauf – inzwischen war der Krieg ausgebrochen – musste er weiter in die USA fliehen. Seine Eltern sah er nie mehr wieder. Sie wurden im Mai 1942 deportiert und im Vernichtungslager Majdanek ermordet.
Was passierte in dieser Zeit mit dem Gemälde? Über weite Strecken können wir dies nicht mehr rekonstruieren. Hans Ludwig Neuberger erkundigte sich bereits im Dezember 1947 bei der amerikanischen Militärregierung nach dem Verbleib des Nachlasses seiner Eltern. Er erwähnte dabei auch „a Beckmann painting portraying a panorama of Frankfurt“. Wo es sich damals befand, wusste er jedoch nicht. Noch bis Mitte der 1980er-Jahre machte er in mehreren Anläufen bei unterschiedlichen Behörden den Verlust des Gemäldes geltend, ohne jedoch direkt nachweisen zu können, ob und wie es seinen Eltern abhanden gekommen war. Zum Zeitpunkt seiner Flucht im Mai 1939 habe es sich noch in deren Besitz befunden, erinnerte er sich. Für ihn, einen Überlebenden des Holocaust, symbolisierte das Gemälde mit der charakteristischen Frankfurter Stadtansicht den Verlust seiner Eltern und seiner Heimat. Er verstarb 1997 im Alter von 75 Jahren.
Dank einer fairen und gerechten Lösung im Sinne der Washingtoner Prinzipien, die der Vorstand des Städelschen Museums-Vereins einvernehmlich mit den Erben nach Hans Ludwig Neuberger beschloss, konnte der dauerhafte Verbleib des Gemäldes in Frankfurt ermöglicht werden. Seitdem befindet sich neben dem Werk eine Tafel, die das Verfolgungsschicksal seiner ehemaligen Besitzer würdigt.
Heute hängt der Eisgang wieder in einem eigens eingerichteten Beckmann-Saal. Dieser erinnert auch an das Wirken Georg Swarzenskis, der im November 1938 in die USA fliehen musste und – ebenso wie Beckmann – nie mehr nach Frankfurt zurückkehrte.
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