Navigation menu

Ein Gemälde und seine Geschichte

Woher kommen die Kunstwerke im Museum? Neben Max Beckmanns „Eisgang“ erinnert heute eine Gedenktafel an seine ehemaligen Besitzer. Provenienzforscherin Iris Schmeisser über das Schicksal der Frankfurter Familie.

Iris Schmeisser — 9. April 2019

Provenienzforscher an Museen befassen sich mit der Frage der Herkunft von Kunstwerken. Sie versuchen zu rekonstruieren, welchen Weg ein Kunstwerk vom Zeitpunkt seiner Entstehung bis zum Eintritt in die Sammlung des Museums zurückgelegt hat. Wem gehörte es im Laufe seiner Geschichte? Wann, warum und unter welchen Umständen wechselte es seine Besitzer?

Kunsthistoriker haben sich natürlich schon immer mit der Provenienz von Kunstwerken und der Geschichte von Sammlungen beschäftigt. Dass Museen jedoch systematisch, also mit gezieltem Blick auf die NS-Vergangenheit und der in dieser Zeit erfolgten Besitzerwechsel eines Kunstwerkes Provenienzforschung betreiben, geht auf eine politische Initiative zurück: die Washington Conference im Dezember 1998. Sie wurde von der amerikanischen Regierung organisiert, insgesamt 44 Staaten nahmen daran teil. Im Zentrum standen noch offene Fragen in Bezug auf Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust. Man einigte sich schließlich auf elf Richtlinien, welche den Umgang mit Kunstwerken regeln sollen, die ihren Besitzern während der NS-Zeit verfolgungsbedingt abhanden  gekommen sind.

Auf der Grundlage dieser Washingtoner Prinzipien suchen öffentliche Institutionen seitdem nach belasteten oder möglicherweise belasteten Kunstwerken in ihren Beständen. Werden sie fündig, soll mit den heutigen Erben eine „gerechte und faire“ Lösung angestrebt werden. Eine solche Einigung gab es zuletzt auch bei einem der Kunstwerke des Städel Museums, Max Beckmanns Eisgang von 1923.

Max Beckmann, Eisgang, 1923, Öl auf Leinwand, 47,5 x 59,5 cm, erworben 1994 mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder, der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung und anderer Spender. Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V. sowie der Bundesrepublik Deutschland 
Foto: Städel Museum - U. Edelmann
© VG Bild Kunst Bonn

Max Beckmann, Eisgang, 1923, Öl auf Leinwand, 47,5 x 59,5 cm, erworben 1994 mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder, der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung und anderer Spender. Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V. sowie der Bundesrepublik Deutschland, Foto: U. Edelmann © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Beckmanns Eisgang zeigt eine Ansicht des Mainufers mit Blick auf den Eisernen Steg. Es ist ein Panorama, wie es der Künstler sah, wenn er aus seiner Wohnung trat. Der Städelsche Museums-Verein hat das Gemälde vor mehr als 25 Jahren aus Privatbesitz erworben, ohne Kenntnis seiner belasteten Vorgeschichte. Im Jahr 2014 erhielt das Städel Museum im Zuge seiner systematischen Provenienzforschung von dritter Seite Hinweise auf die belastete Provenienz des Gemäldes. Es stellte sich heraus, dass der erste Besitzer des Werkes Fritz Neuberger war, ein jüdischer Textilfabrikant aus Frankfurt. Er hatte das Gemälde über den Frankfurter Kunsthändler Peter Zingler direkt von Beckmann gekauft.

Gemeinsam mit seinem Bruder Otto und seinem Vater Ludwig war Fritz Neuberger  Inhaber eines  in den 1890er-Jahren gegründeten Textilunternehmens, das unter anderem lichtechte Tischdecken produzierte und diese unter der Marke Lenco vertrieb. Das 1912 erbaute Firmengebäude war damals unter dem Namen Lenco-Haus bekannt. Aus den oberen Etagen hatte man einen Blick auf den Main. Es steht noch heute im Frankfurter Osthafen.

Historische Postkarte „Lenco-Haus,“ Frankfurt

Historische Postkarte „Lenco-Haus,“ Frankfurt

Als der Gründer Ludwig Neuberger starb, führten seine Söhne die Firma zunächst gemeinsam weiter. Dann stieg Fritz Neuberger aus dem Unternehmen aus und gründete eine eigene Textilwarenfirma, über die nur wenig bekannt ist. In dieser Zeit des Aufbruchs – nach der Hyperinflation des Jahres 1923 – muss Neuberger das Gemälde erworben haben. Es war auch die Zeit, in der das Gemälde zum ersten Mal der Frankfurter Öffentlichkeit gezeigt wurde, in einer Ausstellung des Kunstvereins 1924.

Im Zuge der Wirtschaftskrise geriet sein Unternehmen jedoch in finanzielle Schwierigkeiten. Der Familienwohnsitz im Frankfurter Westend musste verkauft werden und Fritz Neuberger zog mit seiner Frau Hedwig und seinem Sohn Hans Ludwig in die Arndstrasse um. 1931 bot Neuberger das Gemälde dem Städel zum Kauf an. Doch dem Museum fehlten damals die Mittel. Zudem hatte der Direktor des Museums, Georg Swarzenski, der mit Beckmann befreundet war, bereits 13 Gemälde des Künstlers erworben.

Max Beckmann, Bildnis Georg Swarzenski. 1921, Lithografie, Städel Museum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Max Beckmann, Bildnis Georg Swarzenski, 1921, Lithografie, Städel Museum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, wurde Swarzenski aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus seinem Amt als Direktor der Städtischen Galerie entlassen. Im selben Jahr verlor auch Beckmann seine Professur an der Städelschule. Seine Werke waren unter den ersten, die bereits 1936  als „entartete Kunst“ aus der Sammlung des Museums abgezogen wurden.

Fritz Neuberger, dessen Unternehmen aufgrund der Wirtschaftskrise bereits stark geschwächt war, sah sich zunehmend antisemitischem Druck ausgesetzt. Spätestens 1938 befand sich das Ehepaar Neuberger in existenzieller wirtschaftlicher Not. Im Frühjahr stellte Fritz Neuberger einen Passantrag, der jedoch von den zuständigen Behörden „nicht befürwortet“ wurde. Ihr Plan zur Flucht scheiterte.

Das Ehepaar versuchte nun wenigstens, seinen einzigen Sohn, den damals 16-jährigen Hans Ludwig, in Sicherheit zu bringen. Im Mai 1939 gelang ihm mit dem „Kindertransport“ die Flucht nach England. Schon kurz darauf – inzwischen war der Krieg ausgebrochen – musste er weiter in die USA fliehen. Seine Eltern sah er nie mehr wieder. Sie wurden im Mai 1942 deportiert und im Vernichtungslager Majdanek ermordet.

Was passierte in dieser Zeit mit dem Gemälde? Über weite Strecken können wir dies nicht mehr rekonstruieren. Hans Ludwig Neuberger erkundigte sich bereits im Dezember 1947 bei der amerikanischen Militärregierung nach dem Verbleib des Nachlasses seiner Eltern. Er erwähnte dabei auch „a Beckmann painting portraying a panorama of Frankfurt“. Wo es sich damals befand, wusste er jedoch nicht. Noch bis Mitte der 1980er-Jahre machte er in mehreren Anläufen bei unterschiedlichen Behörden den Verlust des Gemäldes geltend, ohne jedoch direkt nachweisen zu können, ob und wie es seinen Eltern abhanden gekommen war. Zum Zeitpunkt seiner Flucht im Mai 1939 habe es sich noch in deren Besitz befunden, erinnerte er sich. Für ihn, einen Überlebenden des Holocaust, symbolisierte das Gemälde mit der charakteristischen Frankfurter Stadtansicht den Verlust seiner Eltern und seiner Heimat. Er verstarb 1997 im Alter von 75 Jahren.

Mainufer mit Eisernem Steg, 1920, unbekannter Fotograf

Mainufer mit Eisernem Steg, 1920, unbekannter Fotograf

Dank einer fairen und gerechten Lösung im Sinne der Washingtoner Prinzipien, die der Vorstand des Städelschen Museums-Vereins einvernehmlich mit den Erben nach Hans Ludwig Neuberger beschloss, konnte der dauerhafte Verbleib des Gemäldes in Frankfurt ermöglicht werden. Seitdem befindet sich neben dem Werk eine Tafel, die das Verfolgungsschicksal seiner ehemaligen Besitzer würdigt.

Heute hängt der Eisgang wieder in einem eigens eingerichteten Beckmann-Saal. Dieser erinnert auch an das Wirken Georg Swarzenskis, der im November 1938 in die USA fliehen musste und – ebenso wie Beckmann – nie mehr nach Frankfurt zurückkehrte.

Dr. Iris Schmeisser ist Provenienzforscherin am Städel Museum, Foto: Städel Museum

Dr. Iris Schmeisser ist Provenienzforscherin am Städel Museum, Foto: Städel Museum


Iris Schmeisser leitet die Provenienzforschung am Städel Museum. Zum „Tag der Provenienzforschung“ am 10. April 2019 gibt sie in einer Führung Einblicke in ihre Forschungsarbeit.

Wer mehr zum Thema Provenienzforschung erfahren möchte, dem empfehlen wir dieses Digitorial®der Liebieghaus Skulpturensammlung.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Pablo Picasso, Bildnis der Fernande Olivier, Öl auf Leinwand, 65 x 54,5 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen-Museumsvereins © Sucession Picasso / VG Bild-Kunst Bonn, 2018
    Geschichte zweier Picasso-Porträts

    Wie Fernande ans Städel kam

    Seit 50 Jahren hängt Picassos „Bildnis der Fernande Olivier“ an den Wänden des Städel. Seine Geschichte erzählt vom Aufbau der modernen Sammlung – der wiederum mit einem anderen Picasso-Porträt begann.

  • Lotte Laserstein an der Staffelei, ca. 1955, Berlinische Galerie
    Laserstein im Exil

    Neuanfang in Schweden

    Gerade hatte sie sich als junge Künstlerin etabliert – da beendete der Nationalsozialismus Lotte Lasersteins Karriere: Im schwedischen Exil musste sie sich alles wieder aufbauen. Über einen Neubeginn in der Fremde.

  • Carl Friedrich Mylius, Römerberg, ca. 1855, Albuminisiertes Salzpapier auf Karton, Städel Museum, Frankfurt am Main
    Carl Friedrich Mylius

    Frankfurt forever!

    Wer sich die neue Altstadt anschaut, sollte auch einen Blick auf die Frankfurt-Fotografien von Carl F. Mylius werfen: Sie gehören zu den ersten überhaupt. Eine Sensation ist sein acht Meter langes Panorama der Stadt.

  • Henri Matisse, Blumen und Keramik, 1913, Öl auf Leinwand, 93,5 x 82,5 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn
    Matisse’ Blumen und Keramik

    Ein Zeichen der Freundschaft

    Gleich zweimal gelangte dieses Gemälde in die Sammlung des Städel. Wenn die Ausstellung Matisse – Bonnard in diesen Tagen endet, bleibt es in Frankfurt – als Zeuge einer weiteren bewegten Geschichte.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Städel | Frauen

    Marie Held: Kunsthändlerin!

    Teil 5 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • Fantasie & Leidenschaft

    Eine Spurensuche

    Bei der Untersuchung von über 100 italienischen Barockzeichnungen kamen in der Graphischen Sammlung bislang verborgene Details ans Licht.

  • Städel Mixtape

    Kann man Kunst hören?

    Musikjournalistin und Moderatorin Liz Remter spricht über Ihre Arbeit und den Entstehungsprozess des Podcasts.

  • Städel | Frauen

    Künstlerinnen-Netzwerke in der Moderne

    Kuratorin Eva-Maria Höllerer verdeutlicht, wie wichtig Netzwerke für die Lebens- und Karrierewege von Künstlerinnen um 1900 waren und beleuchtet deren Unterstützungsgemeinschaften.

  • Muntean/Rosenblum

    Nicht-Orte

    Anonyme Räume, flüchtige Begegnungen: Kuratorin Svenja Grosser erklärt, was es mit Nicht-Orten auf sich hat.

  • Städel Mixtape

    #42 Albrecht Dürer - Rhinocerus (Das Rhinozeros), 1515

    Ein Kunstwerk – ein Soundtrack: Der Podcast von Städel Museum und ByteFM.

  • Alte Meister

    Sammler, Stifter, Vorbild

    Sammlungsleiter Bastian Eclercy und Jochen Sander im Interview zum neuen Stifter-Saal.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Städel Dach

    Hoch hinaus

    Die Architekten Michael Schumacher und Kai Otto sprechen über Konzept, Inspirationen und die Bedeutung des Städel Dachs für Besucher und die Stadt.

  • Gastkommentar

    Kunst und die innere Uhr mit Chronobiologe Manuel Spitschan

    Was sieht ein Chronobiologe in den Werken der Städel Sammlung?

  • Städel Digital

    Städel Universe: Von der Idee zum Game

    Im Interview gibt Antje Lindner aus dem Projektteam Einblicke in die Entstehung der hybriden Anwendung.

  • Engagement

    Die „Causa Städel“

    Was an Städels letztem Willen so besonders war und worauf man heute achten sollte, wenn man gemeinnützig vererben möchte.