Navigation menu

Beckmanns „Rimini“ und Serras „Taraval Beach II“

Eine Zeichnungen von Max Beckmann und Richard Serras „Taraval Beach II“ laden in der Ausstellung „Dialog der Meisterwerke“ dazu ein, beider Künstler Sicht auf Horizonte zu vergleichen. Es sind in ihrer Radikalität verwandte Sinnbilder einer geistigen Erfahrung von Unendlichkeit.

Jutta Schütt — 13. Januar 2016

Eine Reise nach Rimini

Im Sommer 1927 reiste der aus Leipzig stammende Maler, Zeichner und Bildhauer Max Beckmann (1884–1950) mit seiner Ehefrau Mathilde, genannt Quappi, nach Rimini. Bereits ihre Hochzeitsreise im Jahre 1925 führte sie nach Italien. Im selben Jahr erhielt der Künstler eine Anstellung an der Frankfurter Städelschule und entsprechend sorgenfrei konnte das Paar 1926 an die italienische Riviera fahren und auch im folgenden Jahr über zwei Wochen im Grand Hotel an einem der ältesten Badeorte der Adria verbringen.

Der Blick des Zeichners

Beckmann schildert in der Zeichnung den Blick über eine Balustrade auf das Meer. Im Mittelgrund überspannt eine Fußgängerbrücke einen Wasserarm, der in die Adria mündet und den Sandstrand teilt. Nur Kabinen und Boote auf dem linken, menschenleeren Strandabschnitt verweisen auf den üblichen Badebetrieb. Die Gäste scheinen sich im Abendlicht nunmehr auf die Brücke begeben zu haben. Schatten der kleinen, silhouettenhaft beschriebenen Figuren, die gehen oder verweilend auf das Meer hinausblicken, spiegeln sich in einer Stille ausstrahlenden, ruhigen Wasseroberfläche. Auf dem offenen Meer, in weiter Ferne, sind einige Segler angedeutet. Die enorme Tiefenerstreckung der Komposition gipfelt in der hoch angesetzten Horizontlinie. Mit ihrer leichten Wölbung lässt sie an die Krümmung der Erdkugel denken und übertrifft jedwede messbare Dimension. Diese erhabene Stimmung der ausbalancierten, mit schwarzer Kreide gezeichneten Komposition unterstreicht Beckmann mit zurückhaltend eingesetzter Pastellkreide. „Sein Leben lang“, erinnert sich seine Witwe, „hat es Max Beckmann ans Meer gezogen. Immer wieder hat er die See gemalt, die für ihn viel bedeutete, das Meer war für ihn ein Symbol der Ewigkeit.“

Max Beckmann (1884–1950); Rimini, 1927; schwarze Kreide und Pastell auf Bütten, 50 x 64,8 cm; Privatsammlung; © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Max Beckmann (1884–1950); Rimini, 1927; schwarze Kreide und Pastell auf Bütten, 50 x 64,8 cm; Privatsammlung; © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Ankauf und Beschlagnahmung

Das in der derzeitigen Ausstellung präsentierte Pastell „Rimini“ wurde 1929 in der Galerie Flechtheim in Berlin sowie im Frankfurter Kunstverein ausgestellt, wo es durch die Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut schließlich erworben wurde. 1937 wurde es jedoch wie unzählige weitere moderne Werke in deutschen Museumssammlungen durch die Reichskammer der Bildenden Künste als „entartet“ beschlagnahmt. Es ist ein Glück, das Kunstwerk heute wohlbehalten in einer Privatsammlung zu wissen und im Kontext der Jubiläumsausstellung – gemeinsam neben der Zeichnung von Richard Serra – im Städel Museum zeigen zu können.

Temporär „wieder zu Hause“: Blick in die alten Inventarblätter der Graphischen Sammlung des Städel, in der die Zeichnung „Rimini“ von Max Beckmann aus dem Verzeichnis herausgestrichen wurde.

Temporär „wieder zu Hause“: Blick in die alten Inventarblätter der Graphischen Sammlung des Städel, in der die Zeichnung „Rimini“ von Max Beckmann aus dem Verzeichnis herausgestrichen wurde.

Der Bildhauer und die Pazifikküste

Auf den ersten Blick scheinen die beiden grafischen Meisterwerke im Dialog sehr unterschiedlich – genau 50 Jahre liegen zwischen der Entstehung von Max Beckmanns „Rimini“ und Richard Serras „Taraval Beach II“.  Doch auch der US-amerikanische Bildhauer Richard Serra (*1939) hat mit seiner Zeichnung „Taraval Beach II“ weit mehr als seiner Erinnerung an einen konkreten Ort Ausdruck verschafft Serra, der in San Francisco an der Küste des Pazifiks aufwuchs, widmete der vertrauten Gegend um die 47th Avenue und Taraval am Ocean Beach 1977 gleich mehrere Zeichnungen. Mit dieser Arbeit gelingt es ihm, wenngleich auf einem hohen Abstraktionsniveau, die zwiespältige Anmutung von Anziehung und Bedrohung der unendlich erscheinenden Weite des Meeres umzusetzen. Ein mit dem Paintstick, einer Mischung aus Öl- und Wachskreide in Schichten aufgetragenes Rechteck lagert tiefschwarz auf der hellen Fläche des Papiers. Die Form wird nicht vom Umriss her festgelegt, sondern wurde von innen nach außen im zeichnerischen Prozess entwickelt. Vor allem die feine, horizontale Strukturierung der homogenen Oberfläche verweist direkt auf den Zeichner Serra. Und es ist diese physische Handlung des Zeichnens, die dem vor allem als Bildhauer bekannten Künstler im grundsätzlichen Unterschied zur präzise kalkulierten Arbeit an seinen Stahlskulpturen den unmittelbaren Anlass zur Reflexion bietet.

Richard Serra (*1939); Taraval Beach II, 1977; Paintstick (Öl- und Wachskreide) auf Velinpapier, 97 x 127 cm; Städel Museum, Frankfurt am Main; © VG Bild-Kunst, Bonn 2016; Foto: Städel Museum - ARTOTHEK

Richard Serra (*1939); Taraval Beach II, 1977; Paintstick (Öl- und Wachskreide) auf Velinpapier, 97 x 127 cm; Städel Museum, Frankfurt am Main; © VG Bild-Kunst, Bonn 2016; Foto: Städel Museum - ARTOTHEK

Die strenge Beschränkung auf Schwarz und Weiß betont die dichte Materialität der gezeichneten Form in ihrer Wechselwirkung zur Grundfläche. Durch ihre geradezu schwebende und aus der Mittelachse gerückte Positionierung wird der Eindruck eines schweren, unverrückbaren Blocks verhindert. Deutlich wird die Wahrnehmung des Betrachters gelenkt und animiert, undurchdringliche Schwere und ferne Tiefe, sichtbare Grenze und unbestimmbare Weite zu erfahren.

Verwandte Sinnbilder einer Erfahrung von Unendlichkeit: die beiden Werke in der Sonderausstellung "Dialog der Meisterwerke". Foto: Städel Museum

Verwandte Sinnbilder einer Erfahrung von Unendlichkeit: die beiden Werke in der Sonderausstellung "Dialog der Meisterwerke". Foto: Städel Museum


Die Autorin Dr. Jutta Schütt leitet die Graphische Sammlung (ab 1750) des Städel Museums und würde einen Aufenthalt an der Küste jedem Berggipfel vorziehen.

Beide Werke sind noch bis zum 24. Januar 2016 gegenübergestellt in der Ausstellung Dialog der Meisterwerke. Hoher Besuch zum Jubiläum in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung zu sehen.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2024

    Unser Ausblick auf 2024: Freut euch auf faszinierende Werke von Honoré Daumier und Käthe Kollwitz, lernt die Städel / Frauen kennen, entschlüsselt die Bildwelten von Muntean/Rosenblum, erlebt die Faszination italienischer Barockzeichnungen und reist zurück in Rembrandts Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

  • Kuratoren-Interview zu „HERAUSRAGEND“

    Das ideale Medium für Neues

    Was ist das Faszinierende am Relief und welche Überraschungen hält die Gattung bereit? Das kuratorische Team hat Antworten und gibt Einblicke in das Konzept der großen Sommerausstellung.

  • Gastkommentar

    Kunst & Rechtsgeschichte mit Rechtshistoriker Stefan Vogenauer

    Was sieht ein Rechtshistoriker in den Werken der Städel Sammlung? In diesem Gastkommentar eröffnet Stefan Vogenauer (Direktor am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie) seine individuelle Sichtweise auf die Kunstwerke im Städel Museum. 

  • Pablo Picasso, Violine (Violon), 1915, Musée national Picasso, Paris, © Paris, Musée national Picasso - Paris, bpk | RMN - Grand Palais | Béatrice Hatala
    Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2023

    Von einer fotografischen Reise quer durch Italien, über wortwörtlich Herausragendes in der Kunst – mit dabei Rodin, Picasso und Matisse – bis hin zur Renaissance im Norden: Unser Ausblick auf das Kunstjahr 2023!

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2022

    Ein großer Name erwartet uns im Frühjahr und gibt schon einen Hinweis, in welcher Dimension es weiter geht: 2022 warten auf euch große Persönlichkeiten, große Wiederentdeckungen und große Lebensfragen. Freut euch auf „RENOIR. ROCOCO REVIVAL“ und ein Jahr voller Highlights!

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Honoré Daumier

    Zur Ernsthaftigkeit der Komik

    Wie Karikaturen funktionieren und warum Daumier für sie ins Gefängnis kam.

  • Der Film zur Ausstellung

    Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2024

    Unser Ausblick auf 2024: Freut euch auf faszinierende Werke von Honoré Daumier und Käthe Kollwitz, lernt die Städel / Frauen kennen, entschlüsselt die Bildwelten von Muntean/Rosenblum, erlebt die Faszination italienischer Barockzeichnungen und reist zurück in Rembrandts Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

  • Städel Mixtape

    #34 Jan van Eyck – Lucca-Madonna, ca. 1437

    Ein ruhiger Moment mit Kerzenschein, ihr seid so vertieft, dass ihr alles um euch herum vergesst: Vor rund 600 Jahren ging es den Menschen ähnlich, wenn sie vor Jan van Eycks „Lucca-Madonna“ gebetet haben. In diesem STÄDEL MIXTAPE geht es um das Andachts-Bild eines raffinierten Geschichtenerzählers. 

  • Städel | Frauen

    Louise Schmidt: Bildhauerin!

    Teil 2 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Gastkommentar

    Kunst & Schwarze Löcher mit Astrophysikerin Silke Britzen

    Was sieht eine Astrophysikerin in den Werken der Städel Sammlung? In diesem Gastkommentar eröffnet Silke Britzen (Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn) ihre individuelle Sichtweise auf die Kunstwerke im Städel Museum.