Michael Müller beschäftigt sich in der Ausstellung „Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes“ mit fundamentalen Themen. Ein Gespräch mit der Kuratorin Svenja Grosser über Zeit, Sterblichkeit und Liebe.
Für die Ausstellung „Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes“ hat sich der deutsch-britische Künstler Michael Anthony Müller eine sehr spezielle Liebe ausgesucht: Die Liebe zwischen zwei Brüdern, genauer gesagt zwischen zwei Zwillingsbrüdern.
Zwar wurden Kastor und Polydeukes am selben Tag von ihrer gemeinsamen Mutter Leda geboren, doch haben sie nicht den gleichen Vater. Polydeukes ist der Sohn von Zeus und damit als Halbgott unsterblich, während Kastor der Sohn von Tyndareos ist, dem König von Sparta, und folglich als Mensch dem Tode geweiht. Nachdem das unzertrennliche Brüderpaar durch den Tod des sterblichen Kastor im Kampf auseinandergerissen worden ist, gewährt Zeus ihnen abwechselnd je einen Tag im Hades, dem Reich der Toten, und einen Tag im Olymp unter den Göttern. Man weiß aber nicht, um was für einen Tag es sich handelt: Wiederholt er sich oder ist es ein fortlaufend neuer?
Svenja Grosser: Bei Ihnen können wir den Tag sehen, räumlich erleben, mittels 24 Leinwänden, die für die 24 Stunden des Tages stehen. Sie versuchen diesen Tag auf eine ganz andere Weise nachzuerzählen. Was ist Ihr Leitfaden?
Michael Müller: Es geht um ein ganz großes Phänomen, die Idee der Zeit. Das Seltsame ist, dass wir heute physikalisch noch gar nicht erklären können, was Zeit eigentlich ist. Für mich war es grundlegend, mich in etwas hineinzubewegen, was mir vollkommen unbekannt ist. Obwohl wir nicht erklären können, was Zeit ist, haben wir ein ganz ausgeprägtes Zeitgefühl und auch ein Zeitverständnis.
Die Zeit spielt für uns eine wichtige Rolle, wie das Wort Lebenszeit signalisiert, weil sie unseren Alltag komplett bestimmt. Wir wollen diese Vorstellung zwar oft verdrängen, weil mit der Lebenszeit eben auch eine Endlichkeit aufgerufen und uns unsere Sterblichkeit bewusst wird. Dass wir sterben werden, ist andererseits aber unbedingt notwendig dafür, dass wir überhaupt so etwas erleben können, was wir als Leben bezeichnen. Und das ist die Frage, die mit diesem geschenkten Tag aufgerufen wird.
Wenn wir im Städel Museum das Werk ausstellen, zeigen wir es in einem sehr spezifischen Kontext, in einem Bildermuseum. Das Städel hat einen Schwerpunkt auf Malerei und vereint 700 Jahre Kunstgeschichte unter einem Dach. Ihre Arbeiten werden somit unweigerlich in einem Kanon präsentiert. Was denken Sie, welche Rolle Ihr Werk in diesem Kontext einnehmen kann?
Im Grunde ist es eigentlich eine sehr schöne Einladung: Es gibt imaginierte Freunde aus der Vergangenheit, letztlich sind es auch Projektionen und Bilder. Natürlich gibt es auch in der Kunstgeschichte Künstlerinnen und Künstler, die mir vertrauter sind und denen ich mich näher fühle, und ich weiß, dass sie auch in dem Haus hängen.
Welche Künstler sind das für Sie?
Unter anderem für mich sehr prägend war die Zeit der Spätrenaissance, der Manierismus. Ich mochte die Idee der Verquertheit, der Bruch bestimmter strenger Bildkompositionen und die Einladung zum Spiel. Und das ist auch eine Einladung, die ich heute aussprechen möchte: Das Bild soll den Betrachter zum Spielen einladen.
Welche Rolle spielt für Sie das Museum im Allgemeinen, was kann es leisten?
Ich glaube, es kann die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen, immer neue Erzählungen daraus generieren und gleichzeitig kann aus diesem Generieren dieser neuen Erzählung auch ein Hinweis darauf gegeben werden, wie die Zukunft vielleicht aussehen könnte.
Sie scheinen stetig gegen das Original anzukämpfen, zum Beispiel wenn Sie mit Reproduktionen arbeiten oder auf bereits bestehende Geschichten zurückgreifen. Ist der Status des Originals dann doch ein Charakteristikum, das das Kunstwerk letztlich auszeichnet?
Meine Auseinandersetzung mit der Reproduktion, der Kopie und dem Original zielt nicht auf die Frage des qualitativen Unterschieds, sondern auf die Machtfragen, die daran anknüpfen. Diese Machtfragen unseres sehr kapitalistischen Denkens, die ich für mich sehr häufig als einschränkend empfinde, reduzieren sich auf eine Frage: Wem gehört was? Und das ist das Übel. Ich finde, die Autorschaft ist wichtig im Sinne von Verantwortung.
Aber in diesem Gemälde, das wir hier um uns herum sehen, gibt es noch einen weiteren, spezielleren Fall der Reproduktion, der eng mit dem Begriff der Dokumentation und vor allem dem der Authentizität verknüpft ist. Es gibt eine Authentizität in der Unmittelbarkeit des Malens, die sich von der reinen Faktizität der Geschichte unterscheidet. Bei dem geschenkten Tag ist jede einzelne Leinwand natürlich auch ein Dokument, nämlich ein Zeitdokument, das genau festhält, was ich immer zu der jeweiligen, eben einer in der Zeit zu datierenden Stunde gemalt habe – sie ist der authentische Ausdruck dessen. In gewisser Weise könnte man sogar sagen, dass es fast ein gegenständliches Gemälde ist.
Aber andererseits unterscheiden sich die reproduzierten Momente in dem Bild zugleich davon, sie sind nicht nur Bildersatz, so wie das Foto einen Zeitaugenblick festhält. Denn sowohl das Original als auch die Reproduktion entwickelt sich immer weiter, beides wird nicht zu einem bestimmten Zeitmoment festgestellt. Es gibt eine ständige Wiederkehr in dem Gemälde, ich kehre im Malen immer wieder zu dem Original und der Kopie zurück, ich übermale, ich verändere, ich variiere, ich lösche aus. Auch daher sind die beiden Bildebenen, Original und Kopie, gleichberechtigt und auch nie abgeschlossen.
Seit der Renaissance ist die Abbildung der weltlichen Sphären ein zentrales Bestreben der Künste, sie galt lange Zeit als Fenster zur Welt. Welche Welt möchten Sie auf der Leinwand festhalten?
Es ist nicht die Welt, die man mit den Augen sieht, sondern die Welt, die noch kein Bild hat. Wenn man so will, so etwas wie eine geistige Welt, die in einem selbst existiert. Was auch einer der Hauptgründe ist, warum ich nicht als gegenständlicher Maler arbeite. Es geht mir um Sichtbarmachung. Und aus der Konstellation des Sichtbar-machen-Wollens hat sich ergeben, dass ich zum ersten Mal wirklich erlebt habe, dass dieses Bild einfach nicht zu beenden ist.
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