„Die dunkle Seite der Kunst“ hieß unser letzter Blogbeitrag, ein Text von Anne Vieth zu Lustmord und Prostitution in der Kunst der Weimarer Republik. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat 2016 die Ideengeschichte Vergewaltigung veröffentlicht – was hat sie in den Werken gesehen?
Es ist ja immer einfach, eine Gegenposition einzunehmen. Andere Menschen – und in diesem Fall Anne Vieth – müssen sich die Mühe machen, eine Position zu beziehen, an der ich dann herumnörgeln kann. Dabei will ich gar nicht behaupten, dass sie irgendetwas falsch sieht, sondern nur ergänzen, was ich ansonsten noch gesehen habe.
Ich spreche von ihrer Analyse des Lustmord-Raums in der Ausstellung Geschlechterkampf. Wobei Lustmord schon eines dieser Worte ist, die nicht ohne Grund heute aus dem Sprachgebrauch verschwunden sind, weil darin Vorstellungen von Sexualität und Gewalt und Geschlecht mitschwingen, die Vieth mit den Worten auf den Punkt bringt: Die Soldaten kehrten aus dem Ersten Weltkrieg „als ‚Verlierer‘ heim und trafen dort auf erstarkte Frauen, die sich zunehmend an neuen Rollenbildern orientierten. Die Frauen wurden als Bedrohung der männlichen Identität angesehen, auch wegen ihrer sexuellen Anziehungskraft.“
Das mag so sein – das wird in bestimmten Fällen auch so gewesen sein – allerdings sind für mich gerade diese Bilder die lauteste Anklage gegen eben jenes Verständnis von Männlichkeit, das einherging mit Soldatentum und Anpassung und Herrschaft: Ein Verständnis, das nicht nur die Opfer zerstörte, sondern auch die Täter.
Nun ist es ja nicht so, dass Männer „so” sind. Stattdessen ist es ein Konzept von Männlichkeit, das destruktiv und selbstzerstörerisch ist – wie der große Krieg, in dessen Schützengräben sie bei lebendigem Leib verfaulten, während ihre Brüder und Freunde um sie herum abgeschlachtet wurden: erbarmungslos, seelenlos und sinnlos.
Wenn ich Abhandlungen über das Geschlechterverhältnis in der Weimarer Republik lese, habe ich häufig das Gefühl, dass hier sex und class verwechselt werden. Denn es waren ja nicht die Frauen, die die Männer auf die Schlachtfelder von Flandern geschickt hatten, sondern eine politische und industrielle Elite, die einen ungeheuren Gewinn an Tod und Zerstörung in bis dahin ungekanntem Ausmaß machte. Für mich ist die Explosion von Sexualität(en) in der Weimarer Republik ein Aufbegehren gegen diese Lebensfeindlichkeit. Sie ist der Ruf: Wir sind hier, unsere Körper sind kein Kanonenfutter (noch ein Wort, das sich damals im Sprachgebrauch etablierte), wir sind die Revolution, bei der man tanzen kann – nackt und auf dem Vulkan.
Am 11. November 1918 endete der erste Weltkrieg offiziell mit dem Waffenstillstand von Compiègne. Am 12. November 1918 war die Geburtsstunde des Wahlrechts für Frauen in Deutschland. Insofern könnte man schon sagen, dass die deutschen Frauen ihren Kampf gewonnen, während die deutschen Männer verloren hatten. Doch auch die hatten sich ihr Wahlrecht ja erkämpfen müssen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren über 80% der wahlbrechtigten Männer Wähler dritter Klasse, deren Stimmen 17,5-mal weniger zählten als die der Wähler erster Klasse. Männer gegen Frauen? Oder vielleicht doch eher Klasse gegen Klasse? Was war bedrohlicher: der Stellungskrieg oder Stellungen sexueller Art?
Damit will ich gar nicht behaupten, dass das die Analyse der Zeit oder der Kunst war, so wie es ja immer eine lässliche Frage ist, was die Künstler*innen uns sagen wollten. Doch, was auch immer sie gewollt oder nicht gewollt haben, brechen sich in Kunstwerken Aussagen ihren Weg und entblößen einen Teil ihrer Seele oder der Seele ihrer Gesellschaft – wenn es gut läuft.
Und ich finde, es läuft gut in der Ausstellung im Städel mit dem expliziten Titel Geschlechterkampf – und noch ein Wort, das schwanger und unheilschwanger ist mit Geschlechterstereotypen. Tatsächlich fand ich hier ganz viele nahezu ikonische Darstellungen von – vor allem – weiblichen Geschlechterrollen: die Sirene, die Medusa, die Amazone – die Madonna. Es war ein Schock, Edvard Munchs Madonna zum ersten Mal im Original zu sehen und von ihr ebenso hypnotisiert zu sein wie beim ersten Mal, als ich sie in einem Bildband meiner Mutter entdeckte (dort interessanterweise ohne den Rahmen aus Spermien und das geisterhafte Embryo am linken unteren Bildrand). Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war, nur dass ich dachte, sie wäre ich, weil ich sie schön fand und schön sein wollte, weil sie schwarze Haare hatte und damit in der Kunst des Abendlandes schon fast eine Person of Colour war, weil sie aussah, als hätte sie gerade einen Orgasmus gehabt.
Munch schrieb: “Ich habe in der Übergangszeit gelebt, mitten in der Frauenemanzipation.” Das war 1929. Munch schien diese Frauen unglaublich anziehend gefunden zu haben. Klar gab es Probleme, doch was ihn zerrüttete, war nicht die Sexualität der Madonna oder, um sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen, Dagny Juel, sondern dass die norwegische Schriftstellerin nicht seine Partnerin und stattdessen mit dem polnischen Schriftstller Stanislaw Przybyszewski verheiratet war. Ein anderes berühmtes Gemälde, auf dem die drei zu sehen sind, heißt entsprechend: Eifersucht.
Wenn es den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, hätten wir direkt von der Weimarer Republik in die Kultur der 60er Jahre übergehen können. Wo wären wir dann heute in den Fragen der Geschlechterverhältnisse?
Vielleicht erscheinen deshalb viele der Bilder im Städel so verblüffend modern, im Sinne von heutig. Am überraschendsten die Werke des belgischen Malers Félicien Rops; Die Entführung von 1882 könnte eins zu eins eine Illustration einer Graphic Novel sein. Auf dem Rückweg von Frankfurt las ich im Zug, dass die Gemälde, die Sherlock Holmes in Der Hund der Baskervilles in einer Galerie in der Bond Street bewundert – und die Dr. Watson nachhaltig erschüttern – hauptsächlich Arbeiten von Rops waren. Sherlock hat den Weg ins 21. Jahrhundert, wie wir wissen, mühelos geschafft. Was wäre also für mich heute Geschlechterkampf? Eindeutig das Ringen mit dem eigenen Geschlecht, mit seinen Zuschreibungen und Verheißungen. Und dazu gibt es ebenfalls Bilder in der Ausstellung wie Otto Dix‘ Bildnis Jean-Jacques Bernauer mit seinem doppelreihigen Anzug und den lackierten Nägeln oder Julius Paulsens Adam, der die erotische Arbeitsteilung invertiert und sich lasziv der über ihm stehenden Eva hingibt.
Der einzige Schönheitsfehler ist eines der Zitate, die im Atrium, von dem aus man in die Ausstellung gelangt, von den Wänden prangen wie Werbebotschaften. Zwischen den ganzen Hashtags und Schlagzeilen findet sich eine von Spiegel Online aus dem Jahr 2013: „Hirnforschung: Männer und Frauen sind unterschiedlich verdrahtet.“ Wenn ich einen Wunsch an die Kuratoren Felicity Korn und Felix Krämer hätte, dann den, dass sie dieses Zitat weiß überstreichen und stattdessen das Ergebnis der Studie der Tel Aviv University von 2015 übernehmen, die nachgewiesen hat, dass sich auch dieses alte Genderstereotyp nicht halten lässt. Es gibt keine männlichen und weiblichen Gehirne. Anscheinend haben wir alle menschliche Gehirne.
Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.