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Siamesische Schweine statt junger Hasen

Fremdländische Tiere, zoologische Kuriosa und Menschen mit Fehlbildungen – auch solche Themen gehören zum Bildrepertoire Albrecht Dürers. Mit seinen Flugblättern demonstriert der findige Künstler nicht nur seinen geschickten Unternehmergeist als Sensationsjournalist, er beweist auch in dem kurzweiligen Medium eine Imaginationskraft, die ihresgleichen sucht. Noch bis zum 2. Februar sind diese in der großen Dürer-Ausstellung im Städel zu entdecken.

Simona Hurst — 30. Januar 2014
Prägte bis ins 19. Jahrhundert unsere Vorstellung vom Nashorn: Dürers „Rhinocerus“, 1515, Holzschnitt und Typendruck, 239 x 298 mm, Städel Museum

Prägte bis ins 19. Jahrhundert unsere Vorstellung vom Nashorn: Dürers „Rhinocerus“, 1515, Holzschnitt und Typendruck, 239 x 298 mm, Städel Museum

Dürer, das ist der mit dem Hasen, den vielen Selbstbildnissen und den abgefahrenen Darstellungen vom Weltuntergang. Man glaubt, von dem großen deutschen Meister alles schon einmal gesehen zu haben – und doch kann man ziemlich überrascht werden, wenn man in der Dürer-Ausstellung im Städel Museum nichtsahnend auf die wunderlichen Flugblätter des Künstlers trifft.

Exotische Lebewesen

Ein „alter Bekannter“ unter den im Städel gezeigten Flugblättern ist sicherlich Albrecht Dürers (1471–1528) berühmtes „Rhinocerus“ (1515). Viele kennen es bereits aus Schulzeiten, wo der Holzschnitt gerne zur Darstellung grafischer Techniken herangezogen wird. Bis ins 19. Jahrhundert hinein prägte diese Abbildung die Vorstellung der Menschen von dem exotischen Lebewesen. Auf den heutigen Betrachter, der um das tatsächliche Aussehen des Tieres weiß, wirkt die Darstellung des Nashorns bei aller Präzision mitunter auch komisch: Der Dickhäuter sieht aus, als trage er eine aufwändig ziselierte Ritterrüstung, sein schuppiger Hals gleicht der felsartigen Oberfläche einer Auster und das – auf eine Fehlinterpretation zurückzuführende – gewundene Hörnchen im Nacken erscheint auf dem massigen Tierleib fast putzig. Dennoch ist die Ähnlichkeit mit dem echten Exemplar erstaunlich und man täte dem Schöpfer des Blattes Unrecht, wenn man außer Acht ließe, dass er selbst nie eines Panzernashorns ansichtig wurde.

Boulevardzeitung des Spätmittelalters

Es war die Nachricht von der Ankunft eines solchen Tieres im Hafen von Lissabon, die Dürer zur Herstellung des Flugblattes veranlasste. An Bord eines Segelschiffs gelangte es dort im Mai 1515 als Geschenk des Franz von Albuquerque, Gouverneur der Krone Portugals, an den portugiesischen König Manuel I. Das seit der Antike erste Nashorn auf europäischem Boden erregte großes Aufsehen. Die Attraktion musste den unternehmerischen Geist in Dürer ansprechen, der das Flugblatt als Massenkommunikationsmittel für sich zu nutzen wusste und auf die Sensationslust der Menschen reagierte. Es ist nicht anders anzunehmen, als dass er dafür auf bereits zirkulierende Flugblätter oder Beschreibungen zurückgegriffen hat. Auch wenn die Abbildung nicht nach dem Leben gefertigt worden ist, vermittelt uns ihr Detailreichtum Dürers Interesse an einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung des Tieres. Zugleich ist sie Zeuge seines unerschöpflichen Einfallsreichtums und der künstlerischen Möglichkeiten, die ihm die Holzschnitttechnik zu deren Umsetzung bot.

Mit acht Beinen: Albrecht Dürer (1471–1528); Die Missgeburt eines Schweines (Die wunderbare Sau von Landser), 1496, Kupferstich, 121 x 127 mm; Städel Museum

Mit acht Beinen: Albrecht Dürer (1471–1528); Die Missgeburt eines Schweines (Die wunderbare Sau von Landser), 1496, Kupferstich, 121 x 127 mm; Städel Museum

Eine wunderbare Sau

Seine Geschäftstüchtigkeit auf dem Gebiet der Flugblätter bewies Dürer bereits im Jahr 1496 mit einem Bildthema, das höchst seltsam anmutet. Vor der Kulisse einer mittelalterlichen Stadt steht ein haariges Schwein. Vielmehr sind es zwei, deren Körper miteinander verwachsen sind. Das Doppelschwein hat einen Kopf, vier Ohren und zwei Zungen, die es mit gequälter Miene herausstreckt, und von seinen acht Beinen ragen zwei Vorderläufe völlig fehlplaziert in die Luft. Der üblicherweise auf dem Rücken verlaufende Aalstrich ist der Betrachterseite zugewandt und macht deutlich, dass die Körperachse des unglückseligen Geschöpfs stark verdreht ist. Welchen Hintergrund hat diese krude Darstellung, und vor allem, wie kommt Dürer dazu, sich einem solchen Bildthema zu widmen? Wie im Falle des „Rhinocerus“ greift Dürer hier ein Ereignis auf, das damals hohe Wellen geschlagen hat. Dieses Ereignis war die Geburt eines siamesischen Schweines im elsässischen Dorf Landser am 1. März 1496. Zu Ostern wurde das „Monstrum“ auch in Nürnberg ausgestellt – ob Dürer die leibhaftige Sau selbst gesehen hat, ist nicht bekannt. Anders als später beim „Rhinocerus“ verzichtet er bei seiner „Wunderbaren Sau von Landser“ auf einen begleitenden Text. Stattdessen bindet er das Tier in einen erzählerischen Kontext mit Stadt- und Landschaftskulisse ein und entwickelt so ein eigenständiges Kunstwerk, bei dem entsprechend auch das Monogramm „AD“ nicht fehlt. Das Ferkel gibt er indes nicht als Junges wieder, sondern entscheidet sich, die Merkmale einer ausgewachsenen Sau zu fassen und deren Missbildungen anatomisch logisch nachzuvollziehen.

„Elßgred“ war kein Vorbote drohenden Unheils: Albrecht Dürer (1471–1528); Die siamesischen Zwillinge von Ertingen, 1512; Feder in Schwarz, 158 x 209 mm; The Ashmolean Museum, Oxford

„Elßgred“ war kein Vorbote drohenden Unheils: Albrecht Dürer (1471–1528); Die siamesischen Zwillinge von Ertingen, 1512; Feder in Schwarz, 158 x 209 mm; The Ashmolean Museum, Oxford

Wundersame Zeichen göttlichen Zorns

Für den heutigen Betrachter mögen Darstellungen dieser Art moralisch bedenklich erscheinen. Tatsächlich bediente das Ausstellen und die Abbildung solcher außergewöhnlicher Vorkommnisse nicht bloß die Sensationslust. Die Geburt missgebildeter Geschöpfe, aber auch Meteoriteneinschläge oder Himmelserscheinungen wurden von der mittelalterlichen Gesellschaft häufig als Vorzeichen für politische oder gesellschaftliche Entwicklungen gedeutet, die konkret etwa einen Krieg oder den nahenden Weltuntergang ankündigen konnten. Seit Augustinus gehörte es zum mittelalterlichen Weltverständnis, dass auch ungewöhnliche Hervorbringungen der Natur göttliche Schöpfungen seien. Demnach galten  diese auch als gottgesandte Zeichen. Bei siamesischen Zwillingsgeburten war die gängige Auslegung, dass zusammengewachsene Köpfe auf Einheit verwiesen, während zwei voneinander unabhängige Köpfe Zwietracht bedeuteten. Anders die Auffassung der Chronisten bei den siamesischen Zwillingsschwestern Elisabeth und Margarete, die am 20. Juli 1512 im oberschwäbischen Ertingen geboren wurden: Hier war man sich einig, dass die beiden aneinander stets freundlich anblickten und entschied deshalb, sie nicht als Vorboten drohenden Unheils zu betrachten. Die Kunde von dem kurz „Elßgred“ genannten Schwesternpaar drang auch zu Dürer, wie der im Städel präsentierte Entwurf für ein Flugblatt zeigt. Die Darstellung mit Vorder- und Rückansicht der beiden Mädchen im Kleinkindalter ist weitaus weniger detailreich als diejenigen von Sau und Rhinozeros – bemerkenswert ist jedoch der unverstellte Blick des Künstlers auf ein nicht alltägliches Zeugnis dieser ungewöhnlichen Verwachsungen.


Die Unmittelbarkeit von Dürers Tierdarstellungen begeistert die Autorin Simona Hurst stets aufs Neue: sein Feldhase erscheint federleicht und zart, das Nashorn schwer und robust – die moderne Fotografie könnte es kaum besser.

Die Ausstellung Dürer. Kunst – Künstler – Kontext ist nur noch bis zum 2. Februar 2014 im Städel Museum zu sehen. Nutzt die verlängerten Öffnungszeiten für den Endspurt. So ist das Städel am vorletzten Ausstellungstag, am Samstag, 1. Februar 2014 von 10 bis 24 Uhr geöffnet.

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