Eine Bilddatenbank, die alle Werke eines Künstler versammelt. Klingt unspektakulär? Nicht in den Anfangsjahren der Fotografie: Die „Raphael Collection“ war Prinz Alberts große Vision – und letztlich ein kompliziertes europäisches Projekt. Mit Happy End.
Die Raphael Collection sollte alle bekannten Meisterwerke des Renaissance-Meisters Raffael als Reproduktionen an einem Ort versammeln. Das Vorhaben – Mitte des 19. Jahrhunderts erdacht – erinnert an ein Projekt, auf das ein fortschrittlicher Internetkonzern auch heute noch stolz ist: 2018 launchte Google die Website Meet Vermeer, auf der alle Gemälde zu finden sind, die der Künstler zu Lebzeiten geschaffen hat. Das sind zugegebenermaßen nicht viele, nur 36. Aber sie sind in über 18 Museen – darunter auch das Städel – und sieben Länder verteilt.
Auch ohne multimedial angereicherte Website können wir heute Kunstwerke im Netz suchen, in Digitalen Sammlungen stöbern oder gleich virtuell durch Museen reisen. Diesen Komfort verdanken wir nicht nur dem Internet, sondern zu allererst – und hier müssen wir eben fast zwei Jahrhunderte und zur Raphael Collection zurückgehen – der Erfindung der Fotografie. Auch vor ihrer Geburtsstunde 1839 gab es zwar Reproduktionen von Kunstwerken, aber sie mussten aufwendig per Hand geschaffen werden, etwa in Form von Zeichnungen oder Kupferstichen.
Die Fotografie als Reproduktionsmittel steckte noch in den Kinderschuhen, als die Raphael Collection ins Leben gerufen wurde – das Meet Vermeer der analogen Zeit oder: eine vollständige „Bilddatenbank“ aller damals bekannten Werke Raffaels. Werke, von denen es keine Zeichnungen oder Kupferstiche gab, sollten per Fotografie reproduziert werden – ein aufwendiges Unterfangen angesichts der logistischen und technischen Gegebenheiten der Zeit. Doch das Projekt stand unter royaler Regie: Prinz Albert, ein früher Verfechter des neuen Mediums, hatte es zur Chefsache erklärt.
Prinz Albert von Sachsen-Coburg und seine Ehefrau Queen Victoria waren große Förderer der Künste. Beide hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die umfangreiche königliche Sammlung zu systematisieren und für kunsthistorische Untersuchungen nutzbar zu machen. In der Sammlung befanden sich auch zahlreiche Raffael-Werke, mehr als von jedem anderen Künstler. Daher schien es nur logisch, Raffael zum Gegenstand dieser ersten Bestandsaufnahme zu machen. Der größte Teil von Raffaels Oeuvre war jedoch über mehrere europäische Länder, zahlreiche Museen und Privatsammlungen verteilt. Und so entwickelte sich die Raphael Collection bald zu einem großen transeuropäischen Projekt.
Ein enger Verbündeter Alberts saß in Frankfurt am Main: Johann David Passavant war ausgewiesener Raffael-Experte und zu jener Zeit Direktor des Städel Museum (1840-1861), obendrein auch noch ein Freund der Fotografie: Unter seiner Leitung war das Städel eines der ersten Museen überhaupt, das eine eigene Fotosammlung aufbaute.
Prinz Albert, selbst Deutscher, war mit Passavants Raffael-Monografie von 1839 gut vertraut. Sie galt damals als das wichtigste Werk zum Leben und Oeuvre des Künstlers. Mithilfe der Monografie versuchten Albert und seine Berater zunächst alle Raffael zugeschriebenen Werke aufzuspüren und standen dabei mit dem Städel Direktor in engem Kontakt. Prinz Albert ließ von den in Europa verteilten Werken fotografische Reproduktionen anfertigen, die er dann nach Frankfurt zur Begutachtung schickte. Anhand dieser sollte Passavant die Echtheit der Werke bestätigen. Mithilfe der Fotografien entlarvte Passavant so viele Fälschungen und fehlerhafte Zuschreibungen an Raffael.
Auch das Städel Museum war mit Grafiken Raffaels in der Raphael Collection vertreten. Passavant beauftragte hierfür die Fotografen Johann Schäfer und Philipp Hoff, Reproduktionen der Werke anzufertigen und sandte diese nach Windsor.
Mit der Raphael Collection ermutigte Prinz Albert auch andere Museen und Sammler in ganz Europa, das neue Medium zu nutzen. Das Projekt konnte nur mithilfe zahlreicher Fotografen, Museen, Direktoren, Kunstwissenschaftlern und Sammlern realisiert werden, darunter dem Berliner Museumsdirektor Gustav Friedrich Waagen oder dem offiziellen Museumsfotografen des South Kensington Museums (später Victoria and Albert Museum) in London, Charles Thurston Thompson.
Dieser fotografierte 1857 sowohl eine Auswahl an Prinz Alberts Raffael-Zeichnungen als auch im Jahr 1858 die großen Raffael-Kartons in Hampton Court. Die Fotografien wurden sogar direkt über das South Kensington Museum verkauft: Anstatt die schlecht beleuchteten Kartons zu besichtigen, konnte so jeder ein Exemplar für zuhause erwerben. Neben sammelnden Institutionen waren dies vor allem Haushalte aus dem Bildungsbürgertum, da derartige Reproduktionsfotografien nicht billig waren.
Die Raphael Collection musste nicht nur Ländergrenzen überwinden, sondern auch mit technischen Schwierigkeiten zurechtkommen. Die frühe Schwarz-weiß-Fotografie konnte etwa Abstufungen in der Farbigkeit nur schwer erfassen. Daher wurden diese oftmals nachträglich per Hand koloriert, sodass sie dem originalen Gemälde möglichst nahe kommen. Passavant musste jedoch wiederholt um neue Fotografien bitten, weil die zugesandten Beispiele die Kunst Raffaels nur ungenügend wiedergaben. Zu einer handkolorierten Porträtfotografie des Marchese Federico da Mantova schreibt er 1859 in einem Brief: „Es scheint mir, daß der Künstler bei der Überarbeitung zu sehr von seiner sonderbaren Meinung eingenommen war, daß Raphael dieses Portrait nach einem Mädchen gefertigt habe“.
Auch die Lichtverhältnisse in den Museen und Galerien stellten ein großes Problem dar. Gemälde und Zeichnungen mussten daher meist draußen bei Tageslicht fotografiert werden – ein Graus für heutige Restauratoren. Immer wieder kam es zu Verzögerungen. So musste Passavant auf die fotografischen Reproduktionen der Raffael-Kartons aus London mehrere Monate warten – schuld war offenbar das Regenwetter im Königreich und ein Mangel an passendem fotografischen Papier.
Doch die schwierigen Umstände konnten der deutsch-britischen Freundschaft nichts anhaben. 1876 – nach 23 Jahren – war die Raphael Collection vollständig. Zum Dank für seine Hilfe schenkte Prinz Albert Passavant ein Album mit 52 Fotografien von ausgewählten Raffael-Zeichnungen aus seiner Sammlung, versehen mit einer persönlichen Widmung: „Dem Biographen Raphael’s Herrn Inspector J.D. Passavant in dankbarer Anerkennung seines verdienstvollen Werks“.
Der kunsthistorische Nutzen der Raphael Collection ist für die heutige Forschung fast unermesslich. Sie gibt Einblick in die beginnende Kunstwissenschaft und die Verbreitung des neuen Mediums der Fotografie im 19. Jahrhundert. Die originale Sammlung befindet sich noch heute in der Royal Collection in Windsor.
Abbildung oben: Philipp Hoff, fotografische Reproduktion, Gott zeigt Noah den Regenbogen, Albuminabzug, nach 1857-1861, Raffael?, Reproduktion aus der Sammlung des Städel Museums, Frankfurt am Main, Royal Collection Trust, copyright Her Majesty the Queen Elizabeth II 2019
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