Navigation menu

Die nackte Ikone

Ein selbstbewusstes Modell, eine gewagte Komposition: Henri Matisse’ „Großer liegender Akt“ ist eine Ikone der Moderne – und ein Highlight unserer aktuellen Ausstellung „Matisse – Bonnard“.

Daniel Zamani — 24. November 2017

Harte Arbeit

Einmal begonnen, hatte Henri Matisse seine Werke schnell vollendet – ganz im Gegensatz zu seinem Freund und Künstlerkollegen Pierre Bonnard, der sich mitunter über Jahre hinweg an seinen Bildern abarbeitete. Dieses Gemälde scheint jedoch auch Matisse mehr abverlangt zu haben. Dabei ist Großer liegender Akt eine von seinen bis dato – augenscheinlich – einfachsten, minimalistischsten Kompositionen. Von Mai bis Oktober 1935 dokumentierte er die mühsame Genese dieses Schlüsselwerks in insgesamt 22 Schwarz-Weiß-Fotografien.

Dokumentation von Großer liegender Akt, vom 3. Mai 1935...

Dokumentation von Großer liegender Akt, vom 3. Mai 1935...

... bis 30. Oktober 1935

... bis 30. Oktober 1935

Die Serie belegt, wie sich das Bild von einer anfänglich sehr viel konventionelleren Aktdarstellung hin zu einer Ästhetik radikal reduzierter Formen entwickelte. Was anfangs eine monochrom gestaltete braune Liege war, wich nur allmählich einem weißblauen Karomuster, das die Zweidimensionalität des Bildes eher hervorhebt als kaschiert. Auch der zitronengelbe Blumenstrauß und die schneckenförmige Rückenlehne drückte Matisse immer weiter in die Fläche, sodass sie in der Endfassung kaum mehr auszumachen sind.

Henri Matisse: Großer liegender Akt, 1935, Öl auf Leinwand, Baltimore Museum of Art © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Henri Matisse: Großer liegender Akt, 1935, Öl auf Leinwand, Baltimore Museum of Art © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Schritt für Schritt zum Scherenschnitt

Offensichtlich fiel Matisse die flächige Verzahnung von Grund und Figur keineswegs leicht. Bei zahlreichen Änderungen in der Ölschicht – in der Kunstgeschichte spricht man hier von einem pentimento – griff Matisse tief in die Trickkiste. Wenn man sich zum Beispiel eine Aufnahme vom 23. Mai genauer anschaut, erkennt man einfarbige Papierstreifen, die Matisse mit Nadeln an der Leinwand befestigt hat. Den erzielten Effekt simulierte er daraufhin bei der erneuten Übermalung. Matisse wandte diese Technik immer wieder an, um die Komposition nach und nach in die Fläche zu drücken.

Dokumentation von Großer liegender Akt, 23. Mai 1935

Dokumentation von Großer liegender Akt, 23. Mai 1935

Markantestes Ergebnis dieses Verfahrens ist die nahezu monochrom in pink gehaltene, intensiv leuchtende Ausgestaltung des weiblichen Körpers. Schwarze Umrisslinien verstärken dessen schablonenhafte Wirkung. Und so erklären sich auch die zahlreichen Einstichlöcher, die noch heute die ganze Leinwand als kleine, schwarze Punkte überziehen.

Henri Matisse, Großer liegender Akt, Detail

Henri Matisse, Großer liegender Akt, Detail

Von dieser Arbeitstechnik mit ausgeschnittenen Papierbögen war es übrigens nur noch ein kleiner Schritt zu Matisse’ späteren Scherenschnitten, die als Meilenstein der modernen Kunst gefeiert wurden. Beispiele davon finden sich in seinem Künstlerbuch Jazz (1947), dessen Abbildungen gemeinsam mit dem Großen liegenden Akt in der Ausstellung Matisse – Bonnard im Städel zu sehen sind.

Ausstellungsansicht „Matisse – Bonnard“ mit Scherenschnitten der Serie „Jazz“ von 1947, Städel Museum

Ausstellungsansicht „Matisse – Bonnard“

Berühmtes Modell, illustre Käuferinnen

Allerdings ist Großer liegender Akt nicht nur aufgrund seiner ausgeklügelten Entstehung so bekannt. Das Gemälde gilt auch als Hommage an Matisse’ letztes bedeutendes Modell Lydia Delectorskaya. Die russischstämmige Ateliergehilfin regte ihn zu vielen seiner bedeutendsten Kompositionen an und spielte schließlich auch bei der Verwaltung seines Nachlasses eine zentrale Rolle. Selbstbewusst und vollkommen entspannt, fast kokett, präsentiert sich die nackte Lydia dem Betrachter – und erinnert damit auch stark an Matisse’  Odaliskenbilder der 1920er-Jahre.

Eine gewagte Komposition, ein starkes Modell – kein Wunder also, dass Matisse’  Ikone an zwei eigenwillige Besitzerinnen ging. Die in Baltimore ansässigen Schwestern Etta und Claribel Cone erwarben insgesamt über 42 Ölwerke von Matisse und vermachten sie später dem Baltimore Museum of Art, darunter auch den Großen liegenden Akt. Die 22 Fotografien sind nicht nur für uns heute ein wertvolles Dokument einer künstlerischen Herangehensweise, sie waren dem Selbstvermarkter Matisse auch ein schlagendes Verkaufsargument. Noch während seiner Arbeit an dem Gemälde schickte er sie nach und nach als Köder Richtung USA: Seht her, dieses aufwendige Meisterstück hat natürlich seinen Preis. Die Schwestern zahlten ihn.

Spannungsreicher Dialog

Gut möglich übrigens, dass Matisse’  Entscheidung, schließlich ein blauweißes Karomuster als Hintergrund des Werkes einzubeziehen von einem Werk seines Freundes Bonnard inspiriert war: dem kompositorisch eng verwandten Bild Liegender Akt auf weißblau kariertem Grund (um 1909). Die beiden Werke treten in unserer aktuellen Sonderausstellung Matisse – Bonnard zum ersten Mal in einen spannungsreichen Dialog.

Pierre Bonnard: Liegender Akt auf weißblau kariertem Grund, um 1909, Öl auf Leinwand, Städel Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V. (l.)<br />
 Henri Matisse: Großer liegender Akt, 1935, Öl auf Leinwand, Baltimore Museum of Art © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Pierre Bonnard: Liegender Akt auf weißblau kariertem Grund, um 1909, Öl auf Leinwand, Städel Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V. (l.)


Der Autor Daniel Zamani ist einer der Kuratoren der Ausstellung „Matisse – Bonnard“.

„Großer liegender Akt“ ist im Rahmen der Ausstellung zum ersten Mal seit über 30 Jahren wieder in Deutschland zu sehen – noch bis zum 14. Januar 2018.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Pierre Bonnard

    Pionier des 20. Jahrhunderts

    Er galt lange Zeit als „verspäteter Impressionist“, ein aus der Zeit gefallener Maler des Glücks. Dabei stecken Bonnards Gemälde voller Tiefgang, Ambivalenz und fesselnder Spannung.

  • Die Kuratoren der Ausstellung „Matisse – Bonnard“: Felix Krämer (links) und Daniel Zamani
    Kuratoreninterview zu Matisse – Bonnard

    Wiedersehen zweier Freunde

    Felix Krämer und Daniel Zamani haben zwei große Maler der französischen Moderne in einer Ausstellung vereint. Warum Matisse und Bonnard gemeinsam noch stärker sind, erzählen die beiden Kuratoren hier.

  • Henri Cartier-Bresson: Pierre Bonnard in seinem Haus in Südfrankreich, Le Cannet, 1944 © Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos, Courtesy Fondation HCB / Agentur Focus
    Briefe von Matisse und Bonnard

    „Mein lieber Bonnard…“

    Es begann mit einer Postkarte und einem einzigen Satz: „Es lebe die Malerei!“, schrieb Matisse seinem Künstlerkollegen Bonnard 1925. Ein Briefwechsel über Freundschaft, Grippe, Ängste und die Kunst.

  • Pierre Bonnard: Das Frühstück, Heizkörper, um 1930, Privatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
    Marthe de Méligny

    Wer ist diese Frau?

    Marthe, immer wieder Marthe: Die ewig junge Frau taucht in fast 400 Gemälden Pierre Bonnards auf. Wer war die geheimnisvolle Muse, die ihn zu vielen seiner kühnsten Kompositionen inspirierte?

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Honoré Daumier

    Zur Ernsthaftigkeit der Komik

    Wie Karikaturen funktionieren und warum Daumier für sie ins Gefängnis kam.

  • Der Film zur Ausstellung

    Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2024

    Unser Ausblick auf 2024: Freut euch auf faszinierende Werke von Honoré Daumier und Käthe Kollwitz, lernt die Städel / Frauen kennen, entschlüsselt die Bildwelten von Muntean/Rosenblum, erlebt die Faszination italienischer Barockzeichnungen und reist zurück in Rembrandts Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

  • Städel Mixtape

    #34 Jan van Eyck – Lucca-Madonna, ca. 1437

    Ein ruhiger Moment mit Kerzenschein, ihr seid so vertieft, dass ihr alles um euch herum vergesst: Vor rund 600 Jahren ging es den Menschen ähnlich, wenn sie vor Jan van Eycks „Lucca-Madonna“ gebetet haben. In diesem STÄDEL MIXTAPE geht es um das Andachts-Bild eines raffinierten Geschichtenerzählers. 

  • Städel | Frauen

    Louise Schmidt: Bildhauerin!

    Teil 2 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Gastkommentar

    Kunst & Schwarze Löcher mit Astrophysikerin Silke Britzen

    Was sieht eine Astrophysikerin in den Werken der Städel Sammlung? In diesem Gastkommentar eröffnet Silke Britzen (Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn) ihre individuelle Sichtweise auf die Kunstwerke im Städel Museum.