Vor knapp 150 Jahren sprach die Pariser Presse erstmals von „impressionistischen Bildhauern“. Ihre Werke wurden hitzig diskutiert – und warfen gleichzeitig die Frage auf: Was kann Skulptur im Impressionismus überhaupt sein?
Zwischen 1874 und 1886 fanden in Paris die acht sogenannten Impressionisten-Ausstellungen statt. Anders als beim offiziellen, staatlich organisierten Salon trafen hier anstelle einer Jury die Künstler selbst die Werkauswahl und schufen sich auf diese Weise eine unabhängige Plattform. Im Vergleich zu der makellosen akademischen Malerei muteten viele der gezeigten Werke ungewohnt skizzenhaft an. Deutlich unterscheidbare Pinselstriche fügen sich zu vibrierenden Oberflächen, die die Flüchtigkeit des dargestellten Augenblicks wiedergeben und gleichzeitig den Arbeitsprozess offenlegen. Das „Unfertige“ weckte bei manchen zeitgenössischen Kritikern Begeisterung, andere fürchteten um das leibliche Wohl der Besucherinnen und Besucher.
Insgesamt waren in den acht Ausstellungen rund 2000 Werke zu sehen, Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken, bemalte Fächer – und auch: 17 Skulpturen. Die meisten davon – zehn Stück – steuerte der Bildhauer Auguste-Louis-Marie Ottin bei. Ebenso wie Claude Monets Gemälde Das Mittagessen aus der Sammlung des Städel Museums waren seine Skulpturen Bestandteil der ersten Schau. Die Gegenüberstellung irritiert, haben Ottins neo-klassizistische Marmorfiguren doch wenig mit der gängigen Vorstellung von einer impressionistischen Ästhetik gemein. Seine Büste von Jean-Auguste-Dominique Ingres, damals wie heute Inbegriff der akademischen Kunst, scheint sogar im regelrechten Widerspruch dazu zu stehen.
Gleichwohl nahm Ottin mit voller Überzeugung teil: Er hatte sich als vehementer Verfechter einer unabhängigen Künstlerschaft schon Jahre zuvor für selbstorganisierte Ausstellungen stark gemacht; seine Beweggründe waren damit vorwiegend sozialpolitischer und weniger ästhetischer Natur.
Abgesehen von Ottin war Paul Gauguin auf fünf der Ausstellungen mit insgesamt sechs Skulpturen am stärksten als Bildhauer vertreten. Es mag überraschen, dass er sein Debüt in den Impressionisten-Ausstellungen im Jahr 1879 nicht mit einem Gemälde gab, sondern mit einer Marmorbüste seines Sohns Émile. Aufgrund ihrer konventionellen Gestaltungsweise ernteten sie und die im Jahr darauf präsentierte Marmorbüste seiner Frau Mette bei konservativen Kritikern wohlwollende Kommentare:
Moderner waren Gauguins später eingereichte Skulpturen aus Holz, Darstellungen einer Spaziergängerin und einer Sängerin. Mit diesen Freizeitthemen traf er den Nerv der Zeit. Die Presse konnte ihnen dennoch wenig abgewinnen: Selbst die einfache Landbevölkerung schnitze Aufregenderes, so de Montagnac. Gauguin konterte mit experimentellen Materialkombinationen und schuf aus einem vorgefundenen Holztorso, auf den er den aus Wachs modellierten Kopf seines Sohns Clovis setzte, einen Vorläufer des Ready Mades.
Den krönenden Abschluss bildete sein Relief La Toilette, das mit einem sich bürstenden Akt ein Motiv aufgreift, das sich auch in der impressionistischen Malerei Beliebtheit erfreute. Taten einige Pressestimmen dieses Werk als bizarren Versuch einer Holzskulptur ab, so lobten es andere gerade aufgrund der Materialwahl und der Umsetzung als Flachrelief als eine der Hauptattraktionen der letzten Impressionisten-Ausstellung: „Impressionistische Skulptur, das sieht man selten!“, so ein anonymer Kritiker.
Wie schon 1879, 1880 und 1882 war in dieser letzten Ausstellung nur ein einziges plastisches Werk zu sehen. Umso mehr stellt sich die Frage, wie diese wenigen Skulpturen inszeniert wurden? Raumansichten der Impressionisten-Ausstellungen sind nicht bekannt und Besucherstimmen geben wenig Aufschluss über die Anordnung der Werke oder deren Umgebung. Vermutlich standen Skulpturen – wie für damalige Präsentationen üblich – mitten in den Sälen zwischen Sofas und Zimmerpflanzen, die Galerieräumlichkeiten ein wohnliches Ambiente verleihen sollten.
Genauere Anhaltspunkte liegen einzig im Fall von Degas’ Kleiner 14-jähriger Tänzerin vor: Sie stand prominent in der Mitte eines Raums. Die Glasvitrine, die Degas eigens hatte anfertigen lassen, erinnerte an diejenige eines etruskischen Sarkophags im Louvre. Alles an der Skulptur und ihrer Inszenierung erregte Aufsehen: die radikal neuartigen Materialien, das Thema der Ballettelevin, die von Zeitgenossen mit der Prostitution in Verbindung gebracht wurde, genauso wie ihre Gegenüberstellung mit Pastellporträts von Kriminellen. Die Reaktionen waren bekanntlich so heftig, dass Degas zeitlebens keine Skulpturen mehr ausstellte. Damit steht die Kleine 14-jährige Tänzerin stellvertretend für die emotional aufgeladenen Debatten, in denen Zeitgenossen die ersten „impressionistischen Skulpturen“ wahlweise als „Hirngespinst“ verunglimpften oder als „Skulptur der Zukunft“ rühmten.
Aber was macht sie denn nun aus, die „impressionistische“ Skulptur? Das war die Ausgangsfrage unserer Ausstellung EN PASSANT. Grundsätzlich galten als „impressionistisch“ zunächst all jene Werke, die in den Impressionisten-Ausstellungen zu sehen waren. Dabei sind die dort gezeigten17 Skulpturen enorm unterschiedlich, sowohl was Motive als auch Materialwahl und Umsetzung anbelangt. Einige von ihnen bilden in der Ausstellung EN PASSANT den Auftakt und verdeutlichen gleich zu Beginn, dass „die“ impressionistische Skulptur ebenso facettenreich ist wie „der“ Impressionismus.
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