Van Gogh als tragischer Held zwischen Genie und Wahnsinn – diese Legende entstand schon zu Lebzeiten des Künstlers. Aber erst 20 Jahre später wurde seine Biografie zum Bestseller. Der Autor: Julius Meier-Graefe.
Auf der Leinwand führte er mit Kirk Douglas „Ein Leben in Leidenschaft“ und mit Willem Dafoe eines „an der Schwelle zur Ewigkeit“: Die Blockbuster erzählen van Goghs Biografie als emotional aufgeladenes Abenteuerdrama – ein Zerrbild, das nur am Rande mit der Wirklichkeit zu tun hat. Der Künstler ist dank solcher Filme zu einem Teil der Popkultur geworden: Starry, Starry Night – im Radio und auf Socken, die Sonnenblumen auf Sneakern und Fahrrädern.
Die Legenden um van Gogh entstanden allerdings schon lange bevor sich Kirk Douglas sein Filmohr abgeschnitten hat. Der Mann, der bereits um 1900 an ihnen mitschrieb, hieß Julius Meier-Graefe, war Kunstkritiker und vor allem Schriftsteller.
Meier-Graefe wurde 1867 in einer Kleinstadt im heutigen Rumänien geboren. Als junger Mann zog es ihn nach Berlin. Um die Jahrhundertwende entwickelte er sich hier zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Kunstkritiker. Meier-Graefe war Verfechter einer modernen Kunst und setzte sich für die französische Malerei ein – zu einem Zeitpunkt, als diese hierzulande noch stark umstritten war. Da er viele Jahre in Paris gelebt und eine Jugendstil-Galerie geleitet hatte, verfügte er in der dortigen Kunstszene über wichtige Kontakte.
In Deutschland stand er zahlreichen Privatsammlern und Museumsdirektoren bei Ankäufen beratend zur Seite. Besonders hilfreich für die Etablierung der Moderne waren aber – neben diesem persönlichen Netzwerk – vor allem seine Schriften. Sie wirkten maßgeblich auf den Kunstgeschmack des progressiven Publikums im Kaiserreich ein. Eine seiner wichtigsten publizistischen Missionen war: Van Gogh.
Meier-Graefe erwähnte van Gogh erstmals 1898 in einem Aufsatz. Ein wahrer Meilenstein in der Rezeption des Künstlers wurde aber seine 1904 erschienene Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, in der er van Gogh ein eigenes Kapitel widmete. Die epochale Schrift durfte bald in keinem kunstinteressierten Haushalt fehlen. Auch die heute geläufigen Vorstellungen vom Kunstkanon der Moderne wurzeln im Wesentlichen in dieser Abhandlung.
Doch hinter Meier-Graefe steckte auch ein ambitionierter Romancier: Er zeigte sich nicht unbedingt der sachlichen Berichterstattung verpflichtet. „Die Aufgabe des Verfassers hat sich darauf beschränkt, das Drama von Ballast zu befreien und die Lücken zu ergänzen“, ließ Meier-Graefe seine Leserinnen und Leser wissen. Das meiste habe er dafür „aus den Briefen geschöpft, und natürlich auch das zwischen den Zeilen Stehende benutzt“.
Van Goghs bewegte Biografie lieferte ihm den Nährboden für seine Ausführungen, doch schmückte er diese dramatisch aus. Er zeichnete das Bild eines manischen Künstlers mit „rasendem Temperament“, der „lodernde Wolken“ und „entsetzt zum Himmel aufschreiende Bäume“ malte. „Es war schauerlich zuzusehen, wie er malte“, schrieb Meier-Graefe, mehr noch, „es war ein Exzess ungeheuerlicher Art, bei dem die Farbe wie Blut herumspritzte.“ Bei genauem Hinsehen erzählen van Goghs Arbeiten eine andere Geschichte: Sein Pinselstrich ist meistens wohl geordnet. Hin und wieder tritt sogar die Bleistiftvorzeichnung hervor.
In einer Mischung aus Fakten und Fiktion stilisierte Meier-Graefe van Gogh zum einsamen und erfolglosen Künstler, der sich für seine Karriere wenig interessierte und sich vollkommen für die Kunst aufopferte. Diese Darstellung hatte der Autor jedoch nicht ganz neu erfunden. Der französische Kritiker Albert Aurier hatte van Gogh bereits zu dessen Lebzeiten als Einzelgänger („isolé“) charakterisiert, und auch die niederländische Kunstkritik bediente diesen Mythos. In Deutschland schien das Klischee allerdings in besonderem Maße den Nerv der Zeit zu treffen.
In späteren Veröffentlichungen baute Meier-Graefe seine Schilderungen immer weiter aus. Den Gipfel der Dramatik erreichte er 1921 mit seiner Romanbiografie Vincent, die nach mehreren Auflagen den Telenovela-Untertitel Der Roman eines Gottsuchers erhielt. Van Gogh wurde darin zu einem Kunstapostel erhoben, der für seine Arbeit gelebt wie gelitten hatte. Das ließ sich gut verkaufen. Mit dem Erfolg der Meier-Graefe-Bücher stiegen auch die Preise für van Goghs Werke rapide an. Davon profitierte nicht zuletzt der Autor gleich mehrfach: Er selbst hatte einige van Goghs in seiner privaten Sammlung, die er über die Jahre verkaufte. Zudem trat der Kritiker als gut bezahlter Gutachter auf.
Meier-Graefe brachte einen Stein ins Rollen und schrieb van Gogh zur Legende. Neben der künstlerischen Ausdruckskraft seiner Malerei wurden die Mythen um seine Persönlichkeit essenzieller Bestandteil der Erfolgsgeschichte. Eine gute Publicity konnte auch schon vor über 100 Jahren mit beeinflussen, welche Künstler sich auf dem Markt durchsetzen.
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