Betrachtet man ein Porträt des Künstlers Alfred Kubin, so erblickt man ein gespenstisches Antlitz: Blässlich, kindlich, lächelnd und trotzdem melancholisch. Ein „greisenhaftes Kindergesicht“, wie Thomas Mann schrieb. 1898 ging der Grafiker, Illustrator und Schriftsteller Kubin nach München und unter dem Einfluss der dortigen Bohème schuf er Fluten verstörender Werke, die in der „Schwarzen Romantik“ natürlich nicht fehlen dürfen.
Es waren Grafiken von Max Klinger, die Alfred Kubin (1877–1959) im Jahr 1899 in München dazu inspirierten, in ähnlicher Weise schaurige Szenen zwischen Realität und Traum zu Papier zu bringen. Als diese 1903 publiziert wurden, sorgten sie für Furore. Zahlreiche brutale, teils pornographische, immer bedrückende Tuschfederzeichnungen waren zu sehen. Kubin bediente sich aller gängigen Motive der Schwarzen Romantik: Nachttiere, orientalistische Horrorgestalten, Wesen zwischen Mensch und Tier, Ungeheuer und entblößte Frauen bevölkern die Blätter. Ferne Horizonte und tiefe Abgründe prägen die kargen Landschaften, die dauerhaft in nebliges Dunkel gehüllt sind. Unabwendbare Schicksale definieren die grausamen Beziehungen der Akteure zueinander. In der grafischen Gestaltung der Blätter zeigt sich Kubins Meisterschaft: Fein geschwungene Linien umrahmen dunkle und helle Flächen, die in einer Spritztechnik getönt sind. Kompositorisch bestimmen überwältigende Proportionsunterschiede, die ein unheimliches Gefühl erzeugen. Zum Beispiel dominiert in dem Blatt „Die Friedhofsmauer“ die als riesige Diagonale eingesetzte Fledermaus das Bild. Das Gegengewicht zur dunklen Fläche bildet der kleine Wald links hinter der hellen Friedhofsmauer, vor der sich eine Hügellandschaft ausbreitet. Doch die verzerrten Flügel des Nachttiers begrenzen die Landschaft. Nicht, indem sie den Himmel ausfüllen, sondern indem sie die Fläche darunter abschneiden und wie ein schwerer Deckel auf ihr lasten.
Wertschätzt man heute die Qualität dieser Blätter, so hielten seine Zeitgenossen Kubin für einen grafischen Dilettanten. Gefeiert wurde er aber für die Drastik seiner Bildthemen. Das gruselige „Kindergesicht“ passte wunderbar zu den fantasiereichen Ausgeburten seiner Feder. Kubins autobiografischen Notizen, die reich an Selbststilisierung sind, heizten zudem psychoanalytische Interpretationen seiner Bilder an: Hier schildert er den frühen emotionalen Verlust der Mutter und ihren Tod, die starke Autorität des väterlichen k.u.k Obergeometer, dem er nichts habe entgegnen können. Kompensation brachte ihm nur Tierquälerei. Es folgten Sauftouren, Streit, ein Selbstmordversuch am Grabe der Mutter. Die Angst zu versagen sei sein ständiger Begleiter gewesen. Der folgende dreiwöchige Militärdienst habe seine Psyche endgültig zerstört und ihn schließlich in eine Nervenklinik getrieben. Erst die Hochzeit mit der Witwe Hedwig Gründler im Jahre 1904 und der damit einhergehende „regelmäßige Geschlechtsverkehr“ hätten Erlösung gebracht und die Bilderflut seiner geschundenen Seele beruhigt. Kubin lässt in seiner Selbstbeschreibung kaum ein Stereotyp aus. Im Gegenteil, er ist ein Musterbeispiel der Kunstauffassung des Fin de Siècle: Die Seele bedroht sich selbst und tritt, befreit durch die Kunst, nach außen.
Nach der Hochzeit zieht sich Kubin, ermüdet von der Kunststadt München, auf das ferne Schloss von Zwickledt am Inn zurück. Das strenge Schwarz-Weiß des Frühwerks wird nun durch farbigen Sinnesrausch in einer organisch-fantastischen Welt abgelöst, deren Formen der Künstler aus den „unterseeischen Landschaften“ seines Mikroskops fischt. Die Gegenstandslosigkeit einiger Bilder dieser Periode lockt die Expressionisten um Wassily Kandinsky an, da sie in dem Künstler, der sein Innerstes nach außen kehre, einen Seelenverwandten sahen. Kubin selbst verortet sich allerdings neben Künstlern wie James Ensor, Edvard Munch oder Odilon Redon. Diesen Künstlern, die ebenfalls in der Ausstellung „Schwarze Romantik“ zu sehen sind, fühle er sich aufgrund seines „Bedürfnisses nach Stofflichkeit“ näher.
Immer wieder erweitert Kubin sein künstlerisches Spektrum. Im Jahre 1909 nicht durch die Farbe, sondern durch das Wort. Für seinen ersten und einzigen Roman „Die andere Seite“ bediente er sich der Sprache von E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, deren Werke ihm durch seine Tätigkeit als Illustrator bestens bekannt waren. Fantastisch, fatalistisch, fanatisch: In nur acht Wochen brachte Kubin seinen Text zu Papier. In weiteren vier schuf er die Illustrationen. „Nie mehr komme ich da heraus!“, so lässt er die Frau des Erzählers beim Eintritt in die erhoffte Traumwelt prophezeien. Man muss sie aushalten können, die Welt des Alfred Kubin. Dem Betrachter bleibt zu wünschen, dass er aus den verstörenden Tiefen dieses Bildkosmos wieder hinausfindet.
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