Sie war eine aufstrebende Malerin in der Weimarer Kunstszene – aber warum hat es Lotte Laserstein nicht in unser kollektives Gedächtnis und den „Bildungskanon“ geschafft?
Botticelli, Rubens, Monet, van Gogh, Kirchner, Beckmann, Dix – die Liste der großen Malernamen im Städel Museum lässt sich mühelos fortführen. Es sind absolute Publikumsmagneten, jeder so bekannt, dass es nicht einmal der Vornamen bedarf. Aber wie sieht es eigentlich bei ihren Kolleginnen aus? Ohne Lotte würden wir unsere Laserstein-Ausstellung kaum bewerben können.
Die Künstlerin ist der breiten Masse nicht geläufig, die Mehrzahl ihrer Arbeiten befindet sich in Privatbesitz. Das Städel ist eine der wenigen öffentlichen Sammlungen, in denen Lotte Laserstein vertreten ist. Da man auch in den großen Überblickspublikationen zur Malerei des 20. Jahrhunderts vergebens nach ihr sucht, ist sie selbst unter vielen Kunsthistorikern noch ein Insidertipp. Dabei eroberte die Malerin in den 1920er-Jahren die Berliner Kunstwelt und entwickelte sich auch überregional zu einer angesehenen Porträtistin.
Nach ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten 1937 ins schwedische Exil wurde Laserstein hierzulande zur Unbekannten. Damit teilt sie das Schicksal vieler ihrer Zeitgenossen, die wir heute als „verschollene Generation“ bezeichnen. Auffällig ist, dass vor allem weibliche Positionen in Vergessenheit geraten sind und das obwohl die Emanzipationsbewegung in der Weimarer Republik enorm an Fahrt gewonnen hatte. Frauen hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg endlich Zugang zu den Kunstakademien erkämpft und waren in die Arbeitswelt vorgedrungen. Bekannt ist davon heute kaum noch eine.
In den vergangenen Jahren machte es sich eine Reihe von Ausstellungen zur Aufgabe, das männlich dominierte Bild der Kunst der Moderne zu revidieren. So wurden vor Kurzem Anita Rée in der Hamburger Kunsthalle und Jeanne Mammen in der Berlinischen Galerie gewürdigt. Die Frage nach weiblichen Vorbildern scheint förmlich in der Luft zu liegen. Das zeigt auch die jüngste Netzdebatte, die nach einem Artikel in der Zeit losgetreten wurde. Thomas Kerstan hatte darin eine Liste an Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Literatur und Kunst zusammengestellt, die aus seiner Sicht zur Allgemeinbildung gehören. Das Verzeichnis war vor allem: weiß und männlich. Protest gegen diesen Herren-Kanon lieferte eine Gruppe von Frauen um die Schriftstellerin Sybille Berg. Unter #diekanon wird seither für einen Bildungskanon plädiert, der ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis hat.
Dass eine Künstlerin wie Lotte Laserstein von unserem Radar verschwinden konnte, hat viele individuelle aber auch zeitgeschichtliche Gründe. Der Machtantritt der Nationalsozialisten bedeutete für die Malerin einen herben Bruch in ihrer Biografie. Obwohl christlich getauft, galt Laserstein in der Ideologie der Nazis mit drei jüdischen Großeltern selbst als Jüdin. Nach und nach wurde ihr die Perspektive für eine künstlerische Zukunft in Deutschland genommen. Die Flucht nach Schweden war für Laserstein Glück und Pech zugleich. Sie brachte sich in lebensrettende Sicherheit. Und es gelang ihr in der neuen Heimat Fuß zu fassen und weiter von der Kunst zu leben. Der Neuanfang in Schweden stellte aber auch einen gehörigen Kraftakt dar. Laserstein kannte die Sprache nicht und hatte kaum Kontakte. Ihre Familie musste sie in Deutschland zurücklassen, die Mutter starb in einem Frauen-KZ, die Schwester überlebte den Krieg unter traumatischen Bedingungen im Berliner Untergrund.
Nach dem Krieg fiel Laserstein in Deutschland aus dem öffentlichen Blickfeld. In den Museumssammlungen war sie noch nicht angekommen und da sie einen Großteil ihrer Werke aus Berlin retten konnte, waren ihre Arbeiten auch auf dem Kunstmarkt nicht präsent. Noch dazu hatte die Künstlerin keinen Galeristen, der ihre Werke vertrieb.
Auch ihre realistische Malweise traf nicht den Nerv der Zeit, denn nach 1945 wurden gegenständliche Positionen lange zugunsten abstrakter Formensprachen vernachlässigt. Die junge Bundesrepublik wollte ein strategisches Gegenbild zur nationalsozialistischen Kunstästhetik, aber auch zum Sozialistischen Realismus der Sowjetunion zeichnen.
Erst in den späten 1980er-Jahren brachte eine Ausstellung in den Londoner Galerien Agnews und Belgrave Lotte Laserstein international wieder in Erinnerung. In Deutschland wurde sie 2003 durch die Retrospektive Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit wiederentdeckt, die Anna-Carola Krausse für Das Verborgene Museum kuratierte.
Unsere Auffassung der Moderne wurde also maßgeblich in der Vergangenheit geformt. Zwar ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass sich immer mehr Wissenschaftler und Museen neben den kanonisierten Positionen auch für die Kunst der verschollenen Generation interessieren und dabei auch Künstlerinnen stärker beachten, nichtsdestotrotz erwarten viele im Museum noch immer die großen Namen. Aber auch diese sind nicht gesetzt. Die Sammlung Kunst der Moderne umfasst im Städel Museum annähernd 5500 Werke, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten Eingang in den Bestand gefunden haben. Nicht alle würden wir heute als Spitzenwerke kategorisieren, auch wenn sie einmal zu den Sammlungshighlights gehörten.
Die Auswahl ist gefärbt von den Direktoren und Sammlungsleitern, die sie verantworteten. Dies hatte schon der Bankier Johann Friedrich Städel erkannt, der mit seiner Stiftung den Grundstein für unsere Institution gelegt hat. In seinem Testament bestimmte er, dass seine etwa 500 Werke umfassende Sammlung in der Folgezeit zugunsten von „Besserem“ veräußert werden könne. Dies wurde auch bereitwillig beherzigt: Heute befinden sich nur noch 70 seiner Gemälde im Städel. Welche Kunst sich durchsetzt, hat immer mit dem Zeitgeschmack zu tun, mit politischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Philosophie unseres Stiftungsvaters im Hinterkopf sollten wir immer mal wieder am tradierten Kanon rütteln und Künstlerinnen und Künstlern wie Lotte Laserstein die Türen öffnen. Auf der Liste von #dieKanon macht sich ihr Name neben denen von Hildegard von Bingen, Jane Goodall, Marie Curie und Michelle Obama jedenfalls sehr gut.
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